Ratlose Nestbeschmutzung
Einige von uns stellen erstaunt fest, der Antisemitismus verbreite sich schon wieder – sogar exponentiell. Von Prominenten – bekannt als Gewissen der Nation – hören wir dazu nichts. Politiker dagegen sind politisch korrekt und empörungswillig, wenn gerade eine Kamera läuft. Führt das Schweigen der einen wie das Gerede der zweiten zu irgendwelchen Taten?
Der einzige Bericht über aktuelle und geplante Maßnahmen der Bundesregierung gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Gewalt kam 2002, trotz des Widerstandes seitens der CDU/CSU-Fraktion (diese könne ja nicht das unterstützen, was die PDS begrüßt). Weil er offensichtlich zu wenig gelobt wurde, bot die Regierung keinen weiteren an. Die Öffentlichkeit hat es hingenommen, weil sie die aktuelle Regierung seit je für die bestmögliche hält. Nur einer hat sich mehr gewünscht: Arno Lustiger. Er schrieb alle Bundestagsabgeordnete an und forderte einen alljährlichen Bericht der Regierung zur Antisemitismusbekämpfung. Seine Anfrage wurde erfolgreich totgeschwiegen. So folgte im Juni 2007 die nächste Petition an die Regierung, verabschiedet von der Koordinierungskonferenz deutscher NGOs „Gegen Antisemitismus in Deutschland und Europa“. Eine durchaus gute, viel versprechende Sache: Die Nachricht darüber wurde in einem Internetportal sogar von zwei (!) Nutzern gelesen.
Angesichts dieses medialen Nachhalls möchte ich die Idee des Berichts mit zwei Kommentaren ausdrücklich befürworten.
Erstens: Die Koordinatoren schämen sich für den Antisemitismus «in diesem unserem Lande» und wissen im Voraus, dass sie dafür von hohen Beamten aus der Außen- und Innenpolitik zu Nestbeschmutzern ernannt werden. Um dem Diffamierungsvorwurf zuvorzukommen, wurden Vertreter aller Bundestagsfraktionen ins Centrum Judaicum eingeladen und obendrein eine Bundestagsvizepräsidentin. Sie erzählten einander brav: Juden «waren und sind der Test für die deutsche Demokratie. […] Ging man gut mit den Juden um, dann sah es gut aus mit der Demokratie in Nachkriegsdeutschland» (Paul Spiegel im Jahr 2002). Dies steht im mahnenden Grußwort des israelischen Botschafters. Bei allem Respekt: Ich würde ein anderes Zitat für passender erachten: «Die Folgen des Antisemitismus sind wesentlich fataler für die gesamte deutsche Gesellschaft als für die Juden» (Paul Spiegel im Jahr 2003). Und wenn einige Teilnehmer der Konferenz darauf mit gebührendem Pathos selbst gekommen sind, fragt man sich, warum muss man einander das immer wieder neu erzählen?
Zweitens: In ihrem Grußwort erzählte Petra Pau von ihrem Unbehagen nach einem antisemitischen Angriff auf eine Kindertagesstätte: «Als wir uns danach in der Synagoge zum solidarischen Gebet sammelten, fragte ein Rabbiner: „Wie soll ich das den Kindern erklären?“ Ich habe den Umgang mit Kindern erlernt, studiert und als Lehrerin praktiziert. Aber auf diese einfache Frage habe auch ich keine Antwort. Ich war ratlos.»
Mich wundert es nicht, wenn ein Rabbiner diese Frage nicht beantworten kann. Dass aber eine der prominentesten Politikerinnen Deutschlands derart ratlos ist? Wenn von solchen «Stützen der Gesellschaft» wie Innen- und Außenministerium, wie gesagt, ein «Nestbeschmutzung»-Ruf erwartet wird und von der Spitze des Bundestages eine «Ratlos»-Antwort kommt, ist das nicht etwas zu schwach, an entscheidenden staatlichen Stellen?
Wie wäre es mit etwas mehr Zivilcourage? Nicht nur bei den anderen anmahnen und einfordern? Wenn die Politiker - jeder in seiner Partei, in seinem Gremium, - die eigenen Möllemanns direkt zurückweisen würden, anstatt diese Aufgabe den NGOs zu übertragen, wenn sich diese letztgenannten tatsächlich darauf einigen, die unzureichenden Maßnahmen der Regierung und die Missstände bei den Medien zu kritisieren, und dabei noch eine beachtliche Öffentlichkeit erreichen, dann… Dann wird die Regierung sich überlegen, wie sie das alles vermeiden kann, indem sie zum Beispiel auch diese Forderung eines jährlichen Berichts zur Antisemitismusbekämpfung ignoriert. Warum soll sie sich eigentlich selbst verprügeln lassen?
Und wie mit der Kritik umgangen wird, haben die Chefetagen der ARD- und ZDF-Redaktionen unlängst meisterhaft vorgeführt (Stichwort „Mediatenor“). So erklärte auch Wolfgang Schäuble schon 2002 vorbildlich: «Ich bin dafür – darin sind wir uns einig –, dass wir Missstände und Fehlverhalten mit aller Entschiedenheit bekämpfen. Aber ich bin dagegen, dass wir den Eindruck erwecken, dass überall in Deutschland Minderheiten und Ausländer von der Mehrheit der Bevölkerung verfolgt oder diskriminiert werden. Das Gegenteil ist der Fall. Deswegen sage ich noch einmal: Wir sind ein ausländerfreundliches, tolerantes Land und wir wollen es auch in der Zukunft bleiben.»
Wer will da bitteschön noch einen Bericht?
31. Juli 2007
Auf einer Tagung
An einem Juni-Tag fand in Berlin eine Tagung, "Gegen Antisemitismus", statt. Ich war dabei und habe schon wieder einen Grund zu meckern gefunden. Das Resultat kam auf die erste Seite der "Jüdischen Zeitung" im Juli 2007:
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Juden in Deutschland
Konflikte zwischen den russischsprachigen und deutschsprachigen Juden in Deutschland werden oft thematisiert, nicht aber deren Hintergründe. Der folgende Artikel beschäftigt sich damit. Interessanterweise wurde er immer noch nicht gedruckt (warum nur?!).
Kollegen von der Hagalil-Seite haben ihn freundlicherweise online gestellt, so dass ich ihn hier verlinke (Link) und auch komplett stelle.
Inzwischen hat Chaim in seinem Blog diesen Text vorgestellt (herzlichen Dank dafür!) - soweit ich ihn verstanden habe, positiv (Link).
Kollegen von der Hagalil-Seite haben ihn freundlicherweise online gestellt, so dass ich ihn hier verlinke (Link) und auch komplett stelle.
Inzwischen hat Chaim in seinem Blog diesen Text vorgestellt (herzlichen Dank dafür!) - soweit ich ihn verstanden habe, positiv (Link).
Weltjudentum oder Schtetl?
Ein jüdischer Seemann landet in China und geht spazieren. Unterwegs entdeckt er eine Synagoge und tritt ein. Drin sitzen neun Chinesen in Kippot an Siddurim. Erfreut darüber, schreit er auf: „Ich bin der Zehnte, wir haben Minjan!“ Ein Mann, offensichtlich Gabai, geht auf ihn zu und sagt: „Schön, nur schade, dass Sie nicht jüdisch aussehen.“
Einerseits werden überall neue Synagogen eingeweiht, andererseits regelmäßig antisemitische Sprüche entlarvt. Erfreulicherweise folgen dem Synagogenrausch sowie der Jagd nach Antisemiten Gedanken, wozu das alles gut sein soll: Was wird wohl aus den Juden in Deutschland?
Und das geht so: Das einwanderungsfreudige Deutschland unterscheidet immer noch zwischen deutschen und nichtdeutschen Bürgern, auch wenn sie alle den deutschen Pass haben. Nichtdeutsche Deutsche? Egal wie sie genannt werden - die Mehrheit der Gesellschaft sieht sie als genehmen oder ungenehmen Zusatz. Nichtdeutsche deutsche Bürger werden allerdings sowohl nach dem Gesetz als auch in der öffentlichen Meinung eher ihrer jeweiligen Religion zugeordnet: Von Juden, zum Beispiel, wird erwartet, religiös zu sein, sonst sind sie keine Juden. Betrachtet der säkulare Jude sich aber selbst als Jude? Wie sieht seine Beziehung zu seiner Gemeinde aus und umgekehrt? Wird er dort als volles Mitglied akzeptiert?
Zwei Juden, drei Meinungen. Das kennt jeder. 120.000 Juden, wie viele Meinungen - wer weiß das schon? Die Frage lautet leider in Wirklichkeit anders: Wer will das wissen? Denn sie selbst, die Juden, wissen voneinander viel zu wenig.
Die hierzulande in überwiegender Mehrzahl lebenden Russischsprachigen lesen kaum Deutsch, umgekehrt noch weniger. Meist verstehen sie einander gar nicht. Dies spiegeln Publikationen in jüdischen Zeitungen und Gemeindeblättern wider - in Russisch geschrieben, oft anonym. Darin erklären die älteren Immigranten auch warum - nämlich aus Angst vor angeblicher Verfolgung in der eigenen Gemeinde. Eine der größten Sorgen der russischen Juden gilt den nichtjüdischen Verwandten, die zwar nicht zur Gemeinde nach dem für sie neuentdeckten jüdischen Gesetz gehören, aber doch als Familienmitglieder im früheren Sowjetleben so viel mitgelitten haben. Anstatt diesen Wunsch, die Angehörigen in die Gemeinde mitzunehmen, als ureigenen Ausdruck judischer Mitmenschenliebe zu verstehen und eine würdige Lösung zu finden, wird aus dem Problem ein Dogma gemacht, um dessentwillen man einander ideologisch bekämpft. Von hier aus ist es nur ein kleiner Schritt zum Lieblingsthema, nämlich wer der bessere Jude sei.
Die deutschsprachigen Juden hingegen ziehen sich eher zurück. Wenn sie sich in eine Kulturveranstaltung ihrer Gemeinde verirren, verstehen sie nichts: Es wird in Russisch moderiert und selten übersetzt. Einmal genügt normalerweise, keiner von ihnen kommt wieder. Die meisten gehören fast ausschließlich zu den traditionell geprägten Familien der ehemaligen Displaced Persons und können ihr Wissen den Neuangekommenen kaum vermitteln, viel mehr sind sie Träger der einen, ihnen als einzig wahr bekannten, deutlich reduzierten, aber verbissen verteidigten Tradition. Auch hier ist unterschwellig das Lieblingsthema dasselbe, wer eigentlich der richtige Jude sei.
Versuche, das liberale Judentum wiederherzustellen, sind weniger den Forderungen der Realität entsprungen als dem historischen Denken - dem an sich berechtigten Verlangen, das jüdische Leben in Deutschland wieder so herzustellen, wie es einmal war. Ein kleiner Teil der neubekehrten, vom Sowjetsystem geprägten Menschen entdeckt für sich dagegen die Frömmigkeit der Orthodoxie und orientiert sich an hassidischen Relikten, dazu noch in einer bizarr verzerrten Form, wie in einem Schtetl. Der Buchstabe des Gesetzes gilt ihnen mehr als sein Geist und wird für sie zum Ersatzdogma, so zeigen sie sich feindselig gegenüber kleinsten Abweichungen.
Es sind unterschiedliche jüdische Ideen, die aufeinanderprallen. Wie soll das wohl weiter gehen? Eine mögliche Perspektive wird in Israel vorgelebt. Mit einem Wort: Toleranz. Genauer gesagt: Teilung des kulturellen Spektrums. Was sakral und was säkular ist, bestimmt der Staat. Der Kultus begleitet das Leben zeremoniell. Beide Teile der Gesellschaft einigen sich auf diesen Kompromiss: Wer streng gläubig lebt, kommt damit klar, dass sich die Mitmenschen anders verhalten und trotzdem zu ihm gehören. Wer atheistisch ist, ordnet sich der Macht der Tradition in allen wichtigen Momenten seiner Existenz unter (Geburt, Hochzeit, Tod etc.). Sie sprechen eine Sprache, streiten sich aufs heftigste und beeinflussen einander, ohne das zu wollen oder gar gegen ihren Willen. Daraus wächst eine neue junge Kultur. Ist das kein Vorbild für jüdisches Leben in Deutschland?
Diese Russen…
Aktuell leider nicht. Einige Beispiele aus dem Umfeld der russischsprachigen Juden. Mehrere Monate lang wird in der "Evrejskaja Gazeta" die Meinung eines deutschen Juden diskutiert, die von einem russischen Juden als eine Art Interview wortgetreu eingeführt wurde. Dieser beschrieb den alten Mann ausführlich und nannte ihn beim Namen. Schön und gut, nur beim Versuch ihn anzusprechen, entpuppt er sich als Phantom, eine literarische Fiktion, was die Redaktion selbst nicht weiß und nicht wissen will. Die Autoren streiten beharrlich weiter, ob der alte Mann recht hat. Das zeigt, dass der talentierte Erfinder den Nerv getroffen hat. Kurz zusammengefasst: "Jüdische Gemeinden hätten in Deutschland keine Zukunft. Die meisten Mitglieder seien nicht gläubig. Die nächste Generation wachse auch ungläubig auf - im christlichen Land und fern des Judentums (somit auch des Antisemitismus) - und interessiere sich nicht für das Gemeindeleben". Se non è vero, è ben trovato.
Nicht schlechter ist die andere Anekdote. Die gleiche Zeitung behauptete vollen Ernstes, jüdische männliche Chromosomen seien etwas Besonderes (dies hätten "Forscher" in Israel ganz genau festgestellt). Daraus folgt das entscheidende Argument zugunsten der wiederum ernsthaft debattierenden Erneuerung der Halacha: Ein Jude sei nun nicht mehr nach der Mutter, sondern nach dem Vater zu bestimmen.
Der grundsätzliche Widerspruch all dieser Diskussionen äußert sich darin, dass dieselbe Stimme einerseits selbst bestimmen will, wer ein Jude ist (und zwar nicht nach den jüdischen Vorschriften, sondern wie es gerade passt), andererseits, den Jüdischen Gemeinden die Zukunft abspricht: Wenn wir das Judentum nicht verstehen, dann soll das rigide Judentum sich ändern, nicht wir. Und schon zeigen sich Gurus, die bereit sind, alles zu erneuern: Ein russischgeprägter Rabbiner schlägt vor, „dem Judentum den Status einer welt- und menschenoffenen Religion zu verleihen und die Tore der uralten Weisheit für alle zu öffnen!“ Er missioniert weiter: „Wir müssen die Juden und Nicht-Juden erreichen, die verloren gehen, wenn eisern und unflexibel an den Bestimmungen der Halacha festgehalten wird.“
Gibt es einen Ausweg aus diesem Dilemma? Daran wird nicht gedacht, vielmehr geht es direkt weiter zum Streit um die Machtverhältnisse: Die "Russen" sehen sich in der Mehrheit und wollen sich behaupten - aufgrund ihrer zahlenmäßigen Überlegenheit, quasi ganz demokratisch. Diese Mehrheit will ein anderes Judentum, von welchem sie ebensowenig weiß, und will das durchsetzen. Die älteren brummen, kennen sich aber in der Materie zu wenig aus, viele verstehen nicht einmal die Notwendigkeit, Mitgliedergebühren zu zahlen und erwarten alles kostenlos wie im Paradies. Die jüngeren fühlen sich nicht angesprochen, bleiben fern, zahlen auch nicht. Die denkbare Folge - das Aussterben der Gemeinden, wie der oben zitierte fiktive Denker auch prophezeite. Die meisten Schreiber sehen das Problem und wissen, wer die Misere zu verantworten hat: Schuld daran seien die leitenden Personen, die ihre Vorstellung vom Judentum nicht korrigieren. Außerdem auch die nichtjüdischen Deutschen, die Juden nur dulden, um besser in den Augen der Weltöffentlichkeit auszusehen. Was Regierung und Politiker sagen und was das Volk meint, gehe vollkommen auseinander und verspräche nichts Gutes.
Was soll das?
Auch wenn diese Darstellung verkürzt ist und ihre Kanten zugegeben scharfgezeichnet wurden, spiegelt sie nicht nur Ambitionen, sondern auch die Realität. Die Gesellschaft ist säkular und hat wenig Verständnis für spirituelle sowie geistige Bedürfnisse der Immigranten, die ihr altes, durch die Emigration zerbrochenes Selbstwertgefühl vermissen und es in der eigenen, jedoch für sie verschlossenen Tradition nicht wiederfinden. Denn was geschieht, wenn ein russischer atheistisch erzogener Jude zum ersten Mal in seinem Leben in den Gottesdienst kommt und die Schrift vor sich sieht?
Ein Mensch der Tugend entdeckt für sich in den Geboten die Selbstbestätigung und Stütze wieder. Ein dem normativen Denken verbundener Mensch entdeckt etwas anderes: Durch das bloße Tragen der Zizit ist er schon ein Jude. Der erste liest die Torah, um daraus die moralische Bestätigung für sein Handeln zu bekommen, der andere - um sich von der Welt abzugrenzen. In seinem neuesten Artikel hat Jürgen Habermas die Folgen der Auseinandersetzung zwischen Religion und Vernunft angesprochen. Er sieht uns in einer postsäkularen Gesellschaft. Ist eine Diskussion darüber innerhalb der jüdischen Denkweise vorstellbar?
Der zweite Kreis
Indem ich die zum Teil rührenden, zum Teil grotesken Bilder russischsprachiger Juden in Deutschland zu zeichnen versuche, wächst mein eigenes Unbehagen. Werde ich durch den denunziatorischen Drang überrannt, den anonyme Autoren der Evrejskaja Gazeta, Neophyten und Konvertiten aufweisen, und tue ihnen nach? Tja, es kommt darauf an, wie ein Rabbiner an dieser Stelle sagen würde. Mir geht es eher darum, die Verbindung zwischen vorhandenen Strömungen zu fördern. Wie erreicht man die Immigranten, die kaum Zeitungen lesen und dem Mainstream der deutschen bzw. russischen TV-Medien ausgeliefert sind? Wer will und kann vermitteln - die jüdische Tradition, die Kultur, auch die der Diskussion?
Die deutschsprachigen Juden sind als Angehörige von Überlebenden aufgewachsen und sind viel mehr Enkelkinder des osteuropäischen Judentums. Das bedeutet, die meisten Repräsentanten gehören nicht wirklich zu der liberalen Tradition, wie sie in Deutschland vor 1933 gepflegt wurde, und wie sie es von sich denken, sondern bilden selbst eine eigene Tradition. Es ist eine Mischung für sich: Die selbstauferlegte Strenge des Ritus und eine gesuchte Nähe zur Politik eines säkularen (aber doch im vielem christlich geprägten) Staates sind schon ein Widerspruch. Daraus erfolgt ihre Grunderfahrung, wie zum Beispiel die Notwendigkeit jahrein, jahraus Politiker oder Vertreter der christlichen Kirchen daran zu erinnern, dass eine Veranstaltung, zu der eine Jüdische Gemeinde eingeladen wird, nicht für einen späten Freitag anberaumt werden kann. Das will sich einfach nicht ändern. Mal wollen sie eine Synagoge für „ihre lieben“ Juden bauen, mal Stolpersteine verordnen, mal reden sie von "ihrer" Bibel, mal fragen sie, "wie es euch bei uns geht". Jüngst haben gar Bischöfe die Zeit gefunden, als Touristen nach Israel zu reisen, und fanden dabei kein Wort der Empörung über Missstände im eigenen Lande (antisemitischer Angriff auf eine Kindertagesstätte), posaunten aber ihre private Meinung über das bedrückende Elend der Palästinenser groß heraus. Auf diesem Wege verfügen die nichtjüdischen deutschen Eliten weiter darüber, wie die Zukunft des Judentums in Deutschland auszusehen hat: Synagogen als Festungen, starre Shoa-Gedenkfeste, bei denen das Leid der Palästinenser zunehmend mehr angesprochen wird und Juden sich immer weniger zeigen, alltägliche Polizeipräsenz um die jüdischen Einrichtungen und die Selbstbeschwörung um den angeblich unwägbar kleinen Antisemitismus in der Geselllschaft.
Die russischsprachigen Juden sind mit vollkommen anderen Lebenserfahrungen ausgestattet. In der Atmosphäre des staatlichen Antisemitismus aufgewachsen, opferten sie ihr Judentum zuerst, um dann geopfert zu werden. Um sich vom Antisemitismus zu befreien, haben sie auf ihre Religion verzichtet. Dann wurden sie an ihre Nationalität brutal erinnert und diskriminiert. Jeder kann seine eigene traurige Biographie erzählen, wie es einmal war. Wenn sich also die Russischsprachigen orientieren, dann stellen sie fest, dass sie außer ihren Lebensgeschichten nichts Jüdisches an sich haben, nicht einmal die Sprache. Anstatt aber die verlorenen Wurzeln neu zu pflegen, suchen sie nach der Schuld und finden sie nicht bei sich, sondern – wie gesagt - unter den deutschsprachigen Juden. Diese verweigern die Umstellung des Gemeindelebens auf die russische Sprache und Kultur. Keine Jubiläumsfeier für Puschkin? Kein Treffen mit einem ehemaligen Stalinisten, der so gerne aus Russland kommen würde, um über sein bewegtes Leben zu erzählen und Kleingeld zu verdienen? Keine Änderung der religiösen Prinzipien zugunsten der nationalen? Den sich unermüdlich weiter drehenden Kreis habe ich somit schon zweimal beschrieben.
Spachbarriere
Wie bringt man die beiden Seiten zu einem Dialog? Die Sprachbarriere ist das Haupthindernis. Muss es so bleiben? Juden haben es doch in jeder Sprache ihres Wanderweges geschafft, sich zu äußern, unverkennbar zu machen. Shimon Markish unterschied zwischen der russisch-jüdischen Literatur und der russischen Literatur der Juden. Ähnlich formulierte es Semjon Dubnov, als er von der Aneignung der anderen Form und dem Beibehalten des eigenen Wesens sprach. Ist das das exklusive Thema der osteuropäischen Juden? Warum fehlt eine vergleichbare Selbsterkenntnis der deutschsprachigen Juden von heute? Für sie endet die eigene Geschichte vor 1933, immer noch und immer wieder. Kann einer sich einen Kunstfilm über das Leben eines Ignatz Bubis vorstellen? Muß man sich nur auf die Shoa fixiert sehen? Anders formuliert: Genügt es, ein Jude zu sein, um ein Buch über Hitler schreiben oder gar einen Film über Hitler drehen zu „dürfen“? Kann daraus eine jüdische Aussage oder gar jüdische Moral abgelesen werden? Ein jüdischer Blick auf die Welt und ein jüdisches Schicksal – ist das dasselbe? (George Taboris „Mein Kampf“ ist eine Ausnahme, die viel zu wenig Beachtung findet.) Lieblingsbeschäftigung vieler Juden ist es zu zanken - wer denn unter den Berühmtheiten Jude war. Man streitet sich auch heute, ob Karl Marx ein Jude und Charlie Chaplin gerade keiner war. So sitzt man immer noch wie gebannt vor dem Nazi und spricht seine Sprache.
Die wahre Tradition ist da, in Büchern, in Deutungen, die Rabbiner vermitteln könnten, falls sie danach gefragt würden. Warum denn werden jüdische Witze als ausschließlicher Ausdruck der Jüdischkeit wiederkehrend erzählt (von Juden wie Nicht-Juden - wie neulich Joachim Kaiser in der „Süddeutschen“)? Wie viel wird Elie Wiesel gelesen? Wer hat Gedichte von Karl Wolfskehl mit denen von Haim Lensky in einem Programm vorgetragen? Welcher Historiker kümmert sich darum, dass nicht nur Tony Judt, sondern auch Ephraim Karsh ins Deutsche übersetzt wird? Wer protestiert, wenn Juden nach Belieben und aus unermeßlichen Gründen in den Medien in gute und böse selektiert werden? Wo ist dann eigenes Wort, unangepasst und authentisch?
Der Widerspruch zwischen Religionszugehörigkeit und Nationalitätsbestimmung ist existenziell und kann sich nur innerhalb des Judentums lösen. Der christliche - wenn man will, paulinische - Blick von außen hilft dabei herzlich wenig. Die Trennung in deutschsprachige und russischsprachige Juden muss aufhören. Eine staatliche Integration allein genügt nicht – vielmehr bedarf es eines Konzeptes der Integration in die jüdische Gemeinschaft (also mehr als nur die eine oder andere Einheitsgemeinde das beim besten Willen schaffen kann). Die Suche nach der Identität kann nur im Dialog innerhalb der gesamten jüdischen Gemeinschaft in Deutschland zum Thema werden. Und wenn es auch eine Aufgabe für mehrere Generationen ist, sollten die Thinktank-Maschinen etwas schneller rattern.
Zauberworte aus meiner Sicht wären Pluralismus und Toleranz. Ist es eine Gebetsmühle, wenn dieses Wort schon wieder auftaucht? Nein, es ist eine Tatsache, dass heute weltweit mindestens vier Strömungen im Judentum koexistieren, die alle historisch bedingt herausgebildet sind (orthodox, liberal, konservativ, rekonstruktionistisch). Warum nicht noch mehr, aus Bedürfnissen einer neuen jüdischen Gemeinschaft, die gerade hier und jetzt entsteht? Andererseits müsste „das Wort, das mir fehlt“ (Moses bei Schönberg), auch erst – wieder neu - gefunden werden, das, einmal ausgesprochen, gilt und bewahrt. Da hilft nur lesen, die eigene Geschichte endlich kennenzulernen und zu durchdenken (eben nicht nur Gebete blind lernen, nicht nur die Sprache im Kurs für Touristen aneignen). Warum ist Sabbatai Zwi möglich gewesen und was bedeutet sein Schicksal? Was hat zum Aufblühen der Hassidim geführt und was bedeutet deren Denksystem heute? Was ist jüdisch und was deutsch an der Philosophie Leo Baecks? Was jüdisch, was amerikanisch - an der Mordechai Kaplans? Was jüdisch, was russisch - an den Visionen Semjon Dubnows? Welche Kultur mischt sich da zusammen und bleibt sich treu, wo sind Begriffe, Namen dafür, Folgen daraus? Erkennen sich russische Juden in der russischen jüdischen Literatur? Bestehen sie darauf, dass Romane von Wassili Grossman und Anatoly Rybakow von deutschsprachigen Juden rezipiert würden? Bringen sie sie ins deutsche jüdische Leben mit? Oder beschäftigen sie sich lieber mit eigenen Eitelkeiten bis zur Übelkeit?..
Na, haben alle ein bisschen ihr Fett abgekriegt? Träumer vom wiederhergestellten Schtettl und die vom verklärten Weltjudentum auch? Was wird also aus den Juden in Deutschland?
Wenn auserwählt, dann bitte schön - zum Überleben. Wenn alte Traditionen mitgenommen werden - dann zum Weitergeben. Bewußt. Aus sich heraus. In eigener Verantwortung, auch für die Kindeskinder. Damit diese den Spagat schaffen – sich vom Russischen ins Deutsche zu übersetzen, ohne das Jüdische unterwegs zu verlieren.
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