Wie der Nationalsozialismus entdeckt wurde
Mehrere deutsche Zeitungen haben die dpa-Eilmeldung über den Tod des französischen Kardinals Lustiger übernommen, darunter „Die Zeit“ und der „Weser Kurier“.
Im Online-Angebot der „Zeit“ kann man immer noch lesen:
„Während eines Deutschlandaufenthalts im Jahr 1937 entdeckte er den Nationalsozialismus und entschloss sich, zum Katholizismus zu wechseln. Seine Mutter starb 1943 in Auschwitz.“
Er also war es, er hat den NS „entdeckt“ (vielleicht sogar patentiert). Diese Entdeckung brachte ihn dazu, sofort zum Katholizismus überzutreten (eine Selbstverständlichkeit). Seine Mutter war offensichtlich touristisch interessiert, denn sie starb auf einer polnischen Reise.
Mir stellen sich einige Fragen. Wie konnte dieser Text entstehen, die Redaktion in der Agentur frei passieren und von den Zeitungen unkorrigiert übernommen werden? Meine Recherche führte mich über mehrere Stationen. Ich landete bei der dpa in Hamburg. Der verantwortliche Herr bezeichnete im freundlichen Gespräch spontan diese Sätze als „blöd“, bedankte sich für Kritik und versicherte mir, solch ein sprachlicher bzw. stilistischer Fehler ließe sich nachträglich nicht korrigieren. Was macht man dann damit, wollte ich wissen? Man sperrt die unglücklich formulierte Nachricht, die infolgedessen nicht mehr im Angebot erscheint.
Ich ließ mich mit der französischen dpa-Korrespondentin verbinden. Sie war nicht weniger nett und plädierte auf mildernde Umstände. Sie habe maximal 6 Minuten für den achtzeiligen Text zur Verfügung. Zugrunde liege die Meldung aus dem Online-Ticker der französischen Zeitung „Le Figaro“, woraus sie das Verb „decouvrir“ übernommen und mit „entdecken“ übersetzt habe. Sie habe zu Hause am späten Abend keine Quellen zur Hand und müsse unter Druck schreiben: Möglicherweise schaffen es die anderen Agenturen schneller? Man möge das doch verstehen. Schließlich ist die Schnelligkeit in dem Geschäft wichtig. Hat sie den Originaltext abgespeichert? Nein. Auf der Internetseite des „Figaro“ lässt sich nämlich der ursprüngliche Text nicht mehr finden. Aber ich glaube der netten Frau.
Ich recherchiere über die Suchmaschinen, und im Nu bin ich bei einem Wikipedia-Artikel oder bei anderen Quellen, die mich aufklären: Den jüdischen Knaben Aron Lustiger schickten seine Eltern 1936-37 aus Frankreich nach Deutschland zu einem evangelischen Pensionat, er war zu der Zeit 11 Jahre alt. Während dieses Aufenthaltes wurde er mit dem aggressiven Judenhass und seinen Folgen konfrontiert. 1940 konvertierte er als 14-Jähriger gegen den Willen seiner Familie. Seine Mutter wurde zwei Jahre später nach Auschwitz deportiert und starb in Birkenau, was einen qualvollen Tod in einem Vernichtungslager bedeutet.
Kann man einer Journalistin im Dienst zumuten, selbständig in 6 Minuten darauf zu kommen? Sind wir soweit, dass Wikipedia als Quelle valider ist als die dpa?
„Oft ist das Denken schwer,
Indes das Schreiben geht auch ohne es“ (W. Busch).
Sind etwa Arbeitsbedingungen daran schuld?
So wurde also der Nationalsozialismus entdeckt. Soll es unbedingt so lustig mit Lustiger werden?
16. Oktober 2007
Lustiger bei dpa
Bei der Zusammenstellung der Eilmeldung über den Tod des Kardinals Lustiger hat die dpa Anfang August etwas zu schnell agiert. Ich musste recherchieren. Den Text wollte nur Hagalil-Seite (Link).
Abonnieren
Kommentare zum Post (Atom)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen