4. Januar 2008

George Steiner und seine ungeschriebenen Bücher

Das Buch heißt "Meine ungeschriebenen Bücher". Wie alles von George Steiner, lesenswert. Provozierend zum Mitdenken - und auch zum Schreiben. Den folgenden Text hat die "Jüdische Zeitung" Januar 2008 gedruckt.

Sind wir nicht alle ein bisschen jüdisch?

Dem glücklichen Zufall verdankt der deutsche Leser das bittere Glück, die (übrigens vorzügliche!) Übersetzung vier Monate früher in die Hände zu bekommen: Das englische Original der „Ungeschriebenen Bücher“ von George Steiner erscheint erst im Januar. Jorge Luis Borges wäre neidisch gewesen.

Das vierte von sieben Essays heißt Zion und verdient wohl einen besonderen Platz in der jüdischen antizionistischen Literatur. Tony Judt oder Rolf Verleger können sich warm anziehen: Vom brillanten Literaten, universalen Kenner der Weltkultur, der Generationen zum Nachdenken bewegt hat, hätte auch keiner etwas Minderwertiges erwartet. Steiner beherrscht das Material glänzend, er führt das Jüdische im Menschen sehr plastisch vor und ist selbstreflexiv genug, um seine Ablehnung des realen Staates Israel zu hinterfragen:

„Es kann sein, dass die Shoa meine Überzeugung ad absurdum geführt hat. Doch ich wiederhole: Lasst uns überleben, wenn überhaupt, als Gäste unter den Menschen, als Gäste des Seins selbst.“

So bewundert er einerseits die mehrtausendjährige Tradition „talmudischer Exegese und der tertiären Hermeneutik“. Seine Freude ist überschäumend, wenn er den witzigen Aphorismus zitiert: “Ein Jude ist ein Mensch, der beim Lesen einen Bleistift umklammert, weil er darauf aus ist, ein besseres Buch zu schreiben“. Hier und weiter schreibt er einem Juden seine Lieblingseigenschaften zu, teils an sich beobachtet, teils an den anderen bewundert. So zeichnet er das Portrait eines Wanderers wie er, eines ruhelosen Skeptikers wie er, eines Überlebenswunders wie er, eines Geschichtenerzählers und Sprachkünstlers wie er.

Nebenbei, beinahe beiläufig erklärt er die Parabel Kafkas „Vor dem Gesetz“ - „vielleicht das einzige wahre Addendum, mit dem die säkulare Literatur die Thora bereichert hat“. Es bleibt diesen Satz nur vom Kopf auf die Füße zu stellen: Im Kontext der talmudischen Türhüter-Geschichte sieht man den Menschen, der sich zu dem Sinn seiner Existenz durchringt oder eben nicht. Bereicherung? Kafkas Gleichnis ist eher eine Negierung. Nach Steiner wird der Jude „gehasst, nicht weil er Gott ermordet, sondern weil er ihn erfunden und geschaffen hat.“ So folgt Steiner durchaus Kafka, der bekanntlich schrieb: „Eher hassen wir uns selbst, weil wir noch nicht des Gesetzes gewürdigt werden können.“ Zwischen Heine und Th. Lessing fiebert diese Unruhe durch. Es ist eine christliche Aburteilung der jüdischen Lehre, der Blick eines gründlich getauften Juden. Steiner setzt es fort, im dichten Netz von Metaphern und Zuschreibungen, die nicht dem Kern des Judentums entspringen, sondern von der Sprache der Philo- und Antisemiten geprägt sind. Er führt Montaigne und Proust als „Halbjuden“ ein und wundert sich über den „Außenseiter“ Darwin. New York ist für ihn „die Hauptstadt des Judentums“. Seitenlang träumt er von dem „Begriff eines jüdischen Genpools“.

Doch es geht noch besser: „Die jüdischen Vertrautheiten mit Geld sind in gewissem Sinne instinktiv gewesen“. Auch heute stehe „ein bedeutender Prozentsatz des globalen Finanzwesens unter jüdischer Verwaltung“. Sogar „im postkommunistischen Russland ist ein so großer Teil der Räuberbarone, der milliardenschweren Unternehmer aus einer lange Zeit verachteten, verfolgten Minderheit plötzlich herausgetreten.“ Doch auch dies ist noch nicht der Weisheit letzter Sch(l)uss: „Jüdische Abgesondertheit führte zu Argwohn und Schlimmerem“ und hat „den Nichtjuden entnervt und erbittert.“ Und am meisten stört es den „Luftmenschen“, dass der Staat Israel „Juden zu gewöhnlichen Menschen gemacht“ habe.

Steiner merkt, dass seine Äußerungen ungeheuer sind, und entschuldigt sich dafür, dennoch sein Text gipfelt in der „Rechtfertigung der Diaspora“. Er ist ein Gefangener seiner Sprache und sie führt ihn in ihrer Logik an dem lebendigen Menschen vorbei ins Reich des Geistes. Angesichts der Shoa-Erfahrung und Angst, wieder vernichtet zu werden, wählt er wie Sabbatai Zewi den Weg des Lossagens aus. Ist er aus Menschlichkeit bereit, Menschen sterben zu lassen? Er spricht dies nicht aus, das ist nur die Konsequenz seiner Logik, die ihm verschlossen bleibt. Wie auch die anderen „guten Juden“, baut er dem Juden an und für sich ein übergroßes Piedestal auf und schickt ihn ins Himmelreich, versehen mit dem Schild – für die Erde nicht zugelassen. Am Ende beteuert Steiner, warum er das Buch über Zion nicht geschrieben habe: „Mir fehlte dafür die Klarheit des Blicks“. So ziemlich.

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