5. September 2012

Gustav Mahler. Zwei Jubiläumsjahre

Der folgende Text wurde zuerst für den "Weser Kurier" 2011 geschrieben.
Das Mahler-Jahr hat erstaunlich wenig substanziell Neues an den Tag gebracht. Die Last der Vergangenheit zeigt sich als Besessenheit von zwei Aporien. Ist er ein Künstler des Fortschritts? Ist Mahler, ist seine Musik jüdisch? Feuilletons, Bücher, Tagungen widmen sich weiterhin diesem Themenkreis, weniger der Vermittlung seiner Musik. Während Events drohen, die Botschaft seiner Musik zu untergraben, beschäftigen sich die Schreibenden mit Themen von anni passati.
Was steckt dahinter? In fast allen Publikationen der Jubiläumsjahre 2010-2011 wird Adornos Mahler-Buch (1960) als „die“ Quelle der sogenannten Mahler-Renaissance oder zumindest als eine der wichtigsten Voraussetzungen benannt. Das ist apologetisch und nur für seine Schüler wie Adepten nachvollziehbar.
Adornos Mahler ist ein ideologisches Produkt. Adorno schätzte an ihm „die musikalisch immanente Negativität“, deutete „die sozialistische Neigung“, „das Proletariat“, „Pogrome“ hinein. Positive, lebensbejahende Werke erklärte Adorno für gescheitert. Die Siebte Symphonie? – Da sah Adorno „jenes ominös Positive, das freilich das Finale ruiniert“, „ein ohnmächtiges Missverhältnis“. Überhaupt – „Das reaktionäre Moment von Mahlers Musik ist ihr Naives“. Dass der Komponist mit jeder seiner Symphonien „eine neue Welt aufbauen“ wollte, sei ebenfalls „naiv“. Die Fünfte? „Buntes Getümmel“ im Finale. Nur kurz erwähnte Adorno abwertend Mahlers „vergebliche Jubelsätze“, „seine subjektive Unfähigkeit zum happy end“. Spätestens Klaus Tennstedt und Riccardo Chailly bewiesen erfolgreich das Gegenteil. Jens Malte Fischers Buch (2003) folgt aber auch in der verarbeiteten Fassung (2010) diesem Verdikt Adornos.
Wenn die anderen über die Musik Mahlers als „Abbild seiner Seele“ schreiben, dann ist das für Adorno „Geschwätz“. Nein, „in Mahler dröhnt ein Kollektives, die Bewegung der Massen“. Nach Adorno „sympathisiert Mahlers Musik mit den Asozialen“. Oder: „Mahlers Musik ist Traum des Individuums vom unaufhaltsamen Kollektiv“. In der Sechsten Symphonie geht es darum, „dass der Jude Mahler den Faschismus um Dezennien vorauswitterte“. Typisch: Um zu belegen, dass bei Mahler das Plebejische, das Untere, das Niedrige seinen gebührenden Platz findet, erzählt Adorno: „Die erste Niederschrift des Themas „Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis“ aus der Achten Symphonie steht auf einem Stück Klosettpapier“. Adorno geht noch weiter: „Auf Mahler allein passte das Wort sozialistischer Realismus… Häufig klingen die russischen Komponisten der Jahre um 1960 wie ein verschandelter Mahler“. Das bezieht sich offensichtlich auf Schostakowitsch, den weltweit größten Nachfolger Mahlers! Die Achte? „Degeneriert“, wie all „die ritualen Kunstwerke im Spätkapitalismus“. „Die Achte, wie schon das Finale der Siebenten, (sei) Identifikation mit dem Angreifer. Sie flüchtet zur Macht und Herrlichkeit dessen, wovor sie sich fürchtet“. Mit Leichtigkeit geht Adorno solch ein Lapsus von der Feder wie „das Grelle, zuweilen Näselnde, Gestikulierende und durcheinander Redende macht genau, ohne Beschönigung jenes Jüdische zur eigenen Sache, das den Sadismus reizt“.
Die wenigsten haben dieses Buch freiwillig gelesen. Im teilweise konfusen, sich dauernd widersprechenden Text ging es Adorno, wie immer, wenn er über die Musik schrieb, um manifeste Propaganda der Neuen Wiener Schule. Auch Mahler sollte die Vorstufe zu Schönberg werden, genauso wie Strawinsky in der „Philosophie der Neuen Musik“ darin untergehen sollte. Adorno machte aus Mahler einen Vorausahner. Gewiss, kann ein jeder aus einer Musik alles möglich heraushören. Als Richard Strauss dem Orchester die Dritte Mahlers vermittelte, erzählte er den Musikern von seiner Vorstellung „unübersehbarer Arbeiterbataillone, die zur Maifeier in den Prater ziehen.“ Nach Mahler hätte aber von dem gewaltsamen Frühlingsaufmarsch als dionysische Naturerscheinung die Rede sein müssen. Trotzdem wichtig ist es, dass Strauss nur von seiner Vorstellung redet. Adorno dagegen postuliert, die Musik der Fünften, Sechsten, Siebten Symphonie selbst spräche von Pogromen, Auschwitz, Gräueltaten der Nazizeit. So führt er Mahler unmittelbar zu Schönbergs „Survivor from Warsaw“ hin, fern jeglicher Argumentation, historischer und biografischer Gründe, nur weil er, Adorno, so denkt. Seitdem geistert diese Deutung durch die deutschsprachige Literatur.
Es wird nicht nur übernommen und immer wieder zitiert, es wird so gehört und verstanden. Denn ein Adorno kann sich nicht geirrt haben. Ein frisches Beispiel findet sich im neuesten Deutungsbuch von Wolfgang Kretschmer (2010): Neben Zitaten aus Adorno erzählt der sympathisch unbefangene Autor von seinen eigenen Erlebnissen aus der Hitlerjugend als Hintergrund für seine Übereinstimmung mit Adorno. Was 1960 noch verständlich war, als Stimme der Nachkriegsgeneration, wirkt 2010 seltsam befangen und vereinnahmend. Für Kretschmer hat Mahlers Musik „stets etwas von Morbidität“, das sind „Märsche von Schreck und Schock“. Die Erste Symphonie endet „in einem Akt zerrissener Verzweiflung“, als ein „oben gestelzter, sich prostituierender Triumph“. In der Siebten Symphonie hört er „ein fratzenhaftes Abbild der Ankündigungsmusik jener späteren Kriegssondermeldungen des Reichsrundfunkes“. Sie „endet mit einer wilden Pogrom-Musik“. Dass die vorhandenen Aufnahmen das widerlegen, will Kretschmer auf Anfrage hin nicht als Argument gelten lassen.
Aus heutiger Sicht riss Adorno die Trauermärsche Mahlers aus ihrem Kontext heraus und deutete sie zur bösen Vorausahnung um. Bei Mahler selbst sind sie aber ein Tribut an die spätromantische Idee der Regeneration: Man wird anders, verabschiedet sich von sich selbst, dem Früheren. Von den elf Symphonien endet eine einzige, die Sechste, mit dem Tod des Romanhelden. Die Vierte schafft es, uns als Kinder oder als mit Kindern Mitleidende ins Paradies zu bringen. Die drei letzten Werke besingen den Abschied vom Leben und bestehen darauf, dass das Leben weiter geht. Wie in jedem guten Roman gibt es bei Mahler Strecken, wo das Böse herrscht. Das kennt man spätestens seit Dickens viel zu gut. Nur dauert die Lektüre eines dicken Dickens-Romans einige Tage. Eine Symphonie Mahlers erstreckt sich über anderthalb Stunden, bei ähnlicher inhaltlicher Dichte der Ereignisse und Emotionen. Das Gute und das Böse sind bei Mahler sehr persönlich gefärbt, sie kommen auch außerordentlich persönlich an, bei jedem anders.
Adorno beklagte die Ferne Mahlers von der Arbeiterbewegung und dichtete ihm trotzdem eine besondere Bedeutung für die Linke an. Auch dies geht ununterbrochen weiter, zuletzt im von der Kommunistischen Partei Österreichs angekündigten Vortrag Gerhard Scheits „Pogrommusik“ (2011). Darin wird „das revolutionäre Potenzial“ Mahlers angesprochen und wie seine Musik gegen die Kulturindustrie wohl kämpfte. Und immer wieder Pogrommusik. Scheits Argumentation ist wie Prokrustes Bett: April 1903 brach das erste Pogrom der Neuesten Zeit im zaristischen Russland aus, Mahler schrieb seine Fünfte 1903 (in Wahrheit war sie schon im Juli 1902 vollendet).
Antisemiten haben Mahler von Anfang an vorgeworfen, Jude zu sein. Seine Persönlichkeit wie seine Musik – alles war ihnen jüdisch und verhasst. Max Brod, der große Kafka-Freund und Autor der heute noch inspirierenden Heine-Biographie, sah in Mahler dagegen den „größten jüdischen Genie der Neuzeit“. Die heutige deutschsprachige Mahlerforschung verteidigt den Komponisten gerne vor Antisemiten, indem sie ihm das Jüdische total abspricht. Das brisanteste Beispiel betrifft den sarkastischen Trauermarsch aus der Ersten Symphonie. Hans Heinrich Eggebrecht (1982) hat Vladimir Karbusicky (1978) zu Rate gezogen, um böhmische Hintergründe der Tanzweisen nachzuweisen. Eggebrecht tat Brods Hörerfahrungen ausdrücklich als „höchst fragwürdig“ ab, „zumal Mahler derartiges wohl nie gehört hat“. Die spätere Literatur bleibt dabei. Sogar Jens Malte Fischer kennt nichts anderes. Karbusicky begründete aber 1999 ausdrücklich, dass darin jüdische Melodien und gar Spiel- und Singweise eindeutig verwendet wurden. Eggebrecht konnte sich damit nicht auseinandersetzen, da er 1999 starb. Inzwischen wurde er aber posthum 2009 beschuldigt, sein Leben lang über seine Beteiligung an der Ermordung von Juden bei Odessa 1941 geschwiegen zu haben. Die Frage nach der Relevanz dieser „grassierenden“ oder besser gesagt „grässlichen“ Nachricht für die Bewertung des wohl anerkanntesten deutschen Mahler-Buchs der Nachkriegszeit wurde im Jubiläumsjahr nicht erörtert. Mahler wird in Deutschland hiermit weiterhin nach den Ausführungen eines ehemaligen Feldgendarmen verstanden, der Mahler unterstellte, nie die Synagoge besucht, nie jüdische Melodien gehört zu haben. Der Karbusicky-Artikel wird bis heute übereinstimmend ignoriert. Erst als dieser Artikel 2005 ins Englische übersetzt wurde, kam eine überhebliche Reaktion: Daniel Jütte (2009) hält seine Argumentation für „wenig überzeugend“ und bedauert, „wie sehr die wechselvolle Rezeptionsgeschichte Mahlers offenkundig einen nüchternen (und in den meisten Fällen ernüchternden) Blick in Mahlersche Partituren erschwert“. Unterdessen bleibt Karbusickys Argumentation unangefochten: Der künftige Komponist wuchs im böhmisch-jüdischen Milieu auf, er nahm, bis er 15 Jahre alt wurde, alle Klänge seiner Umgebung auf, das heißt auch tschechische und jüdische Weisen aller Art und verarbeitete sie, wie auch all das, was ihn später umgab, in seiner Musik. Sie ist keinesfalls ausschließlich jüdisch, sie spiegelt die bunt gemischte Situation der k.u.k-Welt. Mahler war kein jüdischer Komponist, er verwendete aber sehr wohl Elemente der jüdischen Musik.
Von der Ersten Symphonie gibt es mehr als 130 Aufnahmen, jeder kann sich leicht eine eigene Meinung bilden. Darunter findet sich allerlei. Bei Leonard Bernstein eine jiddische Deutung, bei Rafael Kubelik eine tschechische, bei Dennis Zsoltay gar eine ungarische, alles überzeugend und idiomatisch erkennbar. Wenn Carlo Maria Giulini oder Jascha Horenstein daraus allerdings eine hohe Tragikomödie ableiten und weniger national färben, um sich um so mehr dem gemeinten Inhalt anzunähern, ist das noch beeindruckender: Es wird hier nun einmal die Begegnung eines sehr jungen Menschen mit der harten und brutalen Realität geschildert, mit der verlogenen Welt der Erwachsenen, wo überraschenderweise auch geheuchelt wird. Es ist ja ein musikalischer Roman, es wird eine Geschichte erzählt. Zwei Andeutungen, die Mahler selbst vorgeschlagen hat, passen hier immer noch: Nämlich, die Waldestiere begraben den Jäger und können dabei kaum ihre heimliche Freude verstecken. Oder: Während der Begräbnis-Prozession, begleitet durch einen Trauermarsch, begegnet man einer anderen Kapelle, die Tanzmusik aufspielt. Das wie auch immer geartete Böhmisch-Jüdische verwendet Mahler hier zum Zweck der hohen Parodie und nicht, um sich als national gefärbten Komponisten erkennen zu geben. Dieses Material wird dabei weder heruntergemacht noch aufgewertet, es ist Mittel zum Zweck. Der Antisemit verkennt das genauso wie der Philosemit. Wenn das dann auch noch die nüchterne Musikwissenschaft auffallend dauerhaft ignoriert, zeigt dies auf ernüchternde Weise deren Zustände. Zum Vergleich: Wenn Berlioz am Ende der „Symphonie fantastique“ seine Angebetete zur widerlichen Hexe verwandelt, kommt nicht einmal irgendeiner hartgesottenen feministischen Forscherin in den Sinn, dahinter eine frauenfeindliche Aussage zu wittern. Es ist klar, dass es sich um romantische (Selbst)Ironie handelt. Genauso bei Mahler.
Das Jüdische wird also ausgeklammert, nicht einmal erwähnt, und wenn, dann nur verneinend. So geht das weiter: Weder im Konzertführer von Mathias Hansen (1996) noch im Mahler-Handbuch von Bernd Sponheuer und Wolfram Steinbeck (2009) findet sich auch nur ein Wort über die jüdische Konnotation. Wenn Karbusicky zitiert wird, dann nur aus dem Buch von 1978, genau wie es Eggebrecht vorgelebt hat. Da sich Jens Malte Fischer auf Adorno, Eggebrecht und Hansen bezieht, bleibt es auch bei ihm ähnlich, auch wenn er dem Thema eigens ein großes Kapitel widmet. Den Artikel von Karbusicky erwähnt auch er nicht.
So bleibt ein großer Riss zwischen der Mahler-Literatur des Jubiläumsjahrs und der Rezeption durch das Publikum. Durch die Möglichkeit, eine Schallplatte und später Kompaktdisk zu Hause anzuhören, entstand die raumakustische Nähe zu dieser Musik, wie es zu keiner anderen davor möglich war und wie es keine andere so einfordert. Zu Hause kann man sich die passende Aufnahme aussuchen und daraus die eigene Lesart des musikalischen Romans ableiten, sich mit dem Helden identifizieren, sich bemitleiden, wiederauferstehen, mit der ewigen Erde eins werden. Mahler spiegelt unsere Menschlichkeit. Seine Musik ist als Projektionsfläche dafür wie geschaffen. Wollen wir dieselbe Musik auch anders wahrnehmen? Das dürfen wir.

Keine Kommentare: