Am 12.7.2010 in der "Frankfurter Rundschau" ist ein bedeutender Artikel von Hans-Klaus Jungheinrich mit dem Titel "Gruß von vorgestern" erschienen. Seine Gedanken über die Interpretation von Musik machten mich streitlustig. Im "Weser Kurier" durfte ich die Gegenposition zur Sprache bringen, und zwar am 30.9.2010, unter dem Titel "Alles eine Frage der Auslegung. Widerstreit der Lesarten: Warum es in der Musik keine verbindliche Interpretation geben kann":
Der Streit um die „richtige“ Musikinterpretation ist keinesfalls nur eine Frage des Geschmacks. Klar: Die Musik, die man und frau zu wichtiger Stunde des Lebens gehört hat, prägt sich fest ein und wird zum eigenen Maß der musikalischen Dinge. Genauso oft bleibt die erste angehörte Aufnahme einer Komposition die Messlatte für den Abgleich.
Nur: Auf die Weise verwechseln wir eine partielle, oft zufällig entstandene Meinung mit erarbeitetem Wissen. Denn auch über die Musikinterpretation lässt sich streiten. Und das geht so:
Im Zeitalter der technischen (bisweilen digitalen) Reproduktion verfügen wir über Dutzende Aufnahmen von fast jedem Meisterwerk, die zu verschiedenen Zeiten und in unterschiedlichen Ländern entstanden sind. Sie dokumentieren sowohl kulturelle Besonderheiten als auch den Stil ihrer Zeit.
So ist der Musikliebhaber im Meer unzähliger Medienträger zunächst einmal verloren, umsomehr als dass die Industrie jede neue Ausgabe mit Werbung als das non plus ultra anpreist. Wie kann man sich helfen?
Nur durch Vergleich, indem man hineinhört und in sich geht. Das funktioniert ganz einfach. Man nehme einen markanten Satz einer klassisch-romantischen Symphonie und hole sich mindestens fünf würdige Aufnahmen. Man spiele sie sich nacheinander vor. Normalerweise kommt man nicht so schnell aus dem Staunen heraus, so stark sind die Variationen.
Daraus entstehen mehrere Fragen. Gibt es eine einzige richtige Interpretation? Sind die restlichen falsch? Warum gab es noch vor 60 Jahren so große individuelle Unterschiede und heute nur geringe? Warum gefällt heute die eine Interpretation besser und morgen eine andere? Der Reihe nach.
Zum Beispiel Bruckner. Man ist sich einig, seine Musik versinnbildlicht den klingenden Kosmos. Aber auch dieses Bild lässt sich unterschiedlich deuten. Ist sein Kosmos unbeweglich majestätisch? Oder verwandelt er sich in langsamen Wellen? Organisiert sich in immerwährenden Kreisen oder in mehrdimensionalen Steigerungen? Ist er statisch oder dynamisch? In sich ruhend oder dem Höchsten entgegen ausgerichtet? Und wenn statisch, darf er zumindest atmen oder soll nur wie ein Riesenkristall wirken? Hier teilen sich die Geister. Große Dirigenten haben ihre Lesarten brucknerscher Kosmologie angeboten. Extrem langsame Tempi von Sergiu Celibidache suggerieren das Monumentale des Alls, mehr oder weniger perfektionierte Statik herrscht bei Günter Wand, wohingegen die ruhige Atmung des Ewigen bei Herbert Karajan im Vordergrund steht. Alle drei streben zur Einheitlichkeit im Tempo, nur erreichen sie ein jeweils anderes Bild und wecken verschiedene Assoziationen. Die geschichtliche Nähe Bruckners zu Wagner wird hier außer acht gelassen, und was den oft angesprochenen „teutonischen“ Eindruck betrifft, so ist die gelungenste Aufnahme dieser Art nicht deutscher, sondern russischer Herkunft, und zwar von Evgeni Svetlanov. Kann denn ein Russe die deutsche und dazu noch erzkatholische Seele erfassen? Muss man allerdings überhaupt deutsch und katholisch sein, um die Musik eines gebürtigen Österreichers zu treffen?
Das war aber noch nicht alles. Eugen Jochum hat fast zeitgleich mit Karajan gewirkt. Beide meinten das Sakrale, erreichten das entsprechende Ziel aber unterschiedlich. Jochum hatte eine wellenförmige, pulsierende Vorstellung vom Atem des Universums. Eine unmerkliche Steigerung der Geschwindigkeit in den langen Flächen neben den Ruhezonen zeigt: Jochum dachte in großen Dimensionen, in denen der tönenden Architektonik. Ist die in sich ruhende Plastizität Karajans gegen die exstatische Dramatik Jochums auszuspielen? – Nein, ich möchte auf keine von beiden verzichten.
Dass man damit auch übertreiben kann, zeigte Hans Knappertsbusch. In heutigen Typologien der Dirigenten möchte man auf seine manchmal peinliche Affektiertheit verzichten. Trotzdem war Knappertsbuschs bedeutungsschwangeres Pathos nicht bloß „teutonisch“ und „manipulierend“, er war eher ein „komisches“ Gegenstück zur genialen Darstellung des dramatischen Willens, wie es Wilhelm Furtwängler pflegte. Die Tradition der ausdrucksfähigen Tempogestaltung war da, um die Geburt der Musik aus dem Geiste hier und jetzt zu präsentieren, es war immer einmalig und es wirkt auch heute noch so, leider mehr in Aufnahmen und kaum noch im Konzert. Unterm Strich bedeutet das, dass absolut daneben gelaufene Interpretationen daran erkannt werden können, dass sie einen Zuhörer gleichgültig lassen.
Die Gründe dafür sind zahlreich, darunter der Perfektionismuswahn im Selbstverständnis einer zunehmend mehr und mehr demokratischen Orchesterkultur. Allerdings waren auch Konzertaufnahmen eines Willem Mengelberg perfekter als die Studioaufnahmen Wands oder Thielemanns. Als genauso subjektiv könnte man auch die historische Wahrheit der neuesten musealen Trends bezeichnen, denn treu dem Buchstaben vernachlässigen sie meist den Geist des Originals.
Es geht hier wohl weniger um den ewigen Streit über Wagner und Beethoven als angebliche Antipoden in der Aufführungstradition der deutschen Musik als vielmehr um eine subjektive Annäherung an den objektivierten Inhalt der Autorenaussage. Wie Bruckners Symphonien, lässt sich jedes Meisterwerk erschließen. Um mit nur noch einem Beispiel abzurunden: Was für eine Freude ist es, sich von der Binsenwahrheit einer „Unvollendeten“ zu verabschieden und zu erkennen, dass sie vollendet ist! Denn man liest immer noch oft die Frage, wie es wohl passieren konnte, dass Schubert nur zwei Sätze zustande brachte. Erst beim vergleichenden Hören lässt sich die Vollkommenheit der Komposition erahnen, wenn Dirigenten den Proporz zwischen den Elementen aufs Neue suchen und meinen. Mehr sogar, je individueller die Lösung, desto überzeugender das Konzept. Denn Musik ist eine Kunst und will menschliche Unterschiede vermitteln. Es gibt keine einzig wahre Interpretation, weil kein Mensch dem anderen gleicht. Mit anderen Worten: Wir verständigen uns durch Musik erfolgreich, nur weil und wenn wir unterschiedlich sind.
2. Mai 2011
Gruß von übermorgen
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