Emergency: Die Emergenz wird emeritiert!
"Das Glasperlenspiel" geniert sich seiner christlichen Prägung nicht: Es opfert sich so schön selbstmitleidig. Hermann Hesse versteckt sich und seine Zeit darin nicht. In der Tat: Der Roman steht unter dem Zeichen des Weltuntergangs. "His dark materials" spielen mit demselben Selbstaufopferungsmotiv, zeigen den Gotteskampf, den Überdruss an der Kirche in Geschichte und Gegenwart. Philip Pullman denkt darin aus der christlichen Kultur heraus, operiert mit deren Motiven. Und doch ist sein in Anspielungen aktueller Roman voll der Hoffnung. So weit die Belletristik.
Die christliche Kultur braucht aber nicht nur Romane, sie kann ohne ihre Theologie auch nicht auskommen, darin befragt sie ihre Werte und spiegelt sich, auch wenn es nur am Rande geschieht. Theologen sind viel mehr als Romanautoren mit der Kirche und den Universitäten verbunden, sie existieren genau dazwischen. Nur in der Verflechtung des organisierten Denkens können sie bestehen - die jahrhundertealte schwerwiegende Tradition ist da, sie zwingt, zurückzudenken. Wie steht es aber mit dem Bezug zur Aktualität? Beeinflusst sie das theologische Denken? Wie hält man’s mit dem heutigen, gepriesenen Dialog zwischen Christentum und Judentum? Nach der Shoa und dem Versagen der christlichen Kirchen und Gesellschaften wird dieser doch so unermüdlich auf allen Ebenen, in unzähligen Vereinen betrieben.
Ein Schlüsselwort scheint heute in diesem engen Sinne die "biblische Theologie" zu sein. Während der tausendjährigen seltsamen Koexistenz hat die Kirche seit je versucht, die Schrift dem Urheber zu entziehen. Durch die griechische ("Septuaginta") und später lateinische Übersetzung ("Vulgata") war die Grundlage dafür erschaffen - nicht nur für das Christentum, sondern auch für die Herabsetzung des Judentums. Ist es in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts vorbei damit? Nein. Die römisch-katholische Liturgie betet seit diesem Jahr am Karfreitag wieder "pro perfidis Judaeis". Die Empörung innerhalb der Kirche hält sich in Grenzen: Die meisten merken davon gar nichts.
Im Zuge der Aufklärung und der Toleranzedikte entstand für Juden der Zugang zur christlichen Umgebung, unter anderem auch zur Universität. Auf theologischem Gebiet will man den Dialog fördern, heute mehr denn je. So wird zum Beispiel seit dem Anfang des vorigen Jahrhunderts in Jesus ein observanter Jude entdeckt und im Christentum alle möglichen Züge der jüdischen Tradition: Die Nächstenliebe haben wir doch gemeinsam. So wird auch den Juden nahe gelegt, dass die Beschäftigung mit dem Talmud in mindestens einigen ihrer Abzweigungen auch eine Theologie sei, da sie sich als eine textorientierte autoritätsbezogene Kommentartätigkeit beschreiben ließe. Weil jüdische Gelehrte und Rabbiner darauf nicht unbedingt von alleine kommen, braucht man dafür erst ein evangelisches Seminar, in dem dies erörtert wird. Am besten überlässt man das Referat zum Thema einem israelischen Gast: So geschah es 2001 in Münster. Shimon Gesundheit kam aus Jerusalem und berichtete exzellent über das, was er als jüdische Theologie der Hebräischen Bibel bezeichnete. Seine bewundernswerte Eloquenz sah so aus: Nach mehreren faktischen Beweisen, dass es eine solche genuin nicht gibt und par excellance nicht geben kann, schwenkte er um und behauptete, dass es sie doch wohl gibt. Er begann mit dem ausgiebigen Zitat aus dem Buch von Leo Adler "Der Mensch in der Sicht der Bibel" (1965), seinerzeit Rabbiner in Basel, der von der Frage ausging, „ob es der Mensch ist oder Gott, welcher den zentralen Gegenstand der biblischen Erläuterung bildet.“ Wenn das Göttliche, „dann ist die Bibel eine Lehre von Gott, eine Theologie. Setzen wir dagegen den Menschen als den Hauptgegenstand der biblischen Betrachtung, so ist die Bibel eine Lehre vom Menschen“. Adlers Antwort: „Zweitausend Jahre überlieferten jüdischen Denkens lassen keinen Zweifel darüber, dass es der Mensch ist, der nach jüdischen Auffassung von der Bibel erforscht und aufgesucht wird.“ Eine klare, unmissverständliche Zurückweisung.
Gesundheit benannte einige weitere Bücher, ohne allerdings daraus zu zitieren, und erklärte sie für wichtig, was sie wohl auch sind. Deswegen und eigentlich nur deswegen seien sie ein ausreichender Beweis für die Existenz einer jüdischen Theologie. Seine Zuhörer sind ihm durchaus dankbar und nachsichtig - sie wissen dies nämlich auch ohnehin. Nur suchen sie sie nicht in jüdischen oder jüdisch geprägten Quellen, sondern woanders, am besten in der Textologie literaturwissenschaftlicher Prägung, frei von Zwängen kultureller, religiöser, mentaler, historischer Unterschiede.
Ein anderes Beispiel: 2006 erschien ein Buch von einem evangelischen Theologen aus Bonn. Der Autor heißt Günter Bader, er ist soeben emeritiert; das Buch: "Die Emergenz des Namens". Es findet sich keine einzige Besprechung des 400-seitigen Folianten, weder Lob noch Kritik. Ist es zu schwer geschrieben? Zu speziell? Oder zu schwach? Gründe der kollegialen Nicht-Beachtung sind mir unbegreiflich, suspekt. Es ist eine lange, stellenweise vielleicht langatmige Abhandlung, die allerdings an manchen Stellen Begeisterung am Thema und an der Formulierungskunst ausstrahlt. Spannend ist das Buch allemal: Erst die zwei letzten Seiten zeigen des Pudels Kern. Beizeiten entsteht das Gefühl, der Autor habe Angst das auszusprechen, worauf er eigentlich hinaus will: Die Theologie ist am Ende und deren Selbstdestruktion nicht aufzuhalten.
Bader beginnt mit dem Tetragrammaton, stützt sich auf die lateinisch geschriebene Untersuchung Luthers und verfolgt das Thema des unaussprechlichen Gottesnamens in der theologischen (Aquin, Areopagita), altphilosophischen (Platon), linguistischen (Jakobson), psychologischen (Goldstein), kabbalistischen (Scholem) und neuphilosophischen (Rosenzweig, Levinas, Derrida) Literatur. Sympathien des Autors liegen deutlich bei der Kabbala, insbesondere bei der sogenannten exstatischen Kabbala, die er ausführlich – mit Scholem als Wegbegleiter – im Werk von Abraham Abulafia (13. Jahrhundert) findet. Darin entdeckt Bader „die Latenz der Übereinstimmung zwischen jüdischer und christlicher Hermeneutik im Zeichen des Platonismus“. Er betrachtet die Sache von zwei „gegenläufigen“ Positionen aus und bringt kritisch die christliche Polemik hinein: „Christen, so heißt es, lesen die Schrift nicht beschränkt wie die Juden, die am Literalsinn haften. Jüdisches Lesen führe zu Rande und Schale, christliches dringe in Mark und Kern. Miseri Judaei…“ Dagegen hält Bader: „Nun ist aber in der theosophischen Kabbala eine jüdische Überlieferung aufgetreten, die genau das lehrt, was ihr der christlichen Polemik zufolge gefehlt haben soll“. Und weiter: „Es gilt, nicht etwa das antijüdische Vorurteil sei es aus Scham, sei es aus Opportunismus zurückzuziehen, was unglaubhaft bliebe, sondern im Gegenteil: es zu intensivieren, solange, bis das Fortgewiesene umschlägt und als Herbeizurufendes zurückkommt, zur Belehrung der Christen.“ Und noch weiter: „Miseri Christiani; das ist der Kern dessen, was hier zur Verhandlung steht, und die Emergenz des Namens ist nichts als ein Schibboleth hierfür.“
Machen wir hier eine kurze Pause, ich musste eine lange Passage in gekürzten Form zitieren. Sie zeigt, wie Bader die „eigentümliche“ jüdische Sicht verteidigt und sie zum gewissen Vorbild für die christliche macht. Ja, unverkennbar, und auf den ersten Blick gut gemeint. Er sorgt sozusagen für Gerechtigkeit, indem er den Vorwurf der Christen an die Juden ironisch umpolt – von den elenden Juden auf die elenden Christen. Der aufmerksame Leser hat aber bestimmt auch eine Besonderheit rhetorischer Argumentation wahrgenommen: Dafür, ein antijüdisches Vorurteil „zurückzuziehen“, gäbe es nur zwei Gründe – aus „Scham“ oder aus „Opportunismus“. Beide wären allerdings „unglaubhaft“. Besser sei es, das Vorurteil zu „intensivieren“. Ernst gemeint?
An anderer Stelle ist die Wortwahl Baders nicht weniger merkwürdig: „Dass das schöne griechische Wort theologia mit dem erhabenen hebräischen Namen יהוה in Verbindung gebracht wird, ist bereits für das Auge anstößig, um wie viel mehr für das Denken. Wir knüpfen Theologie an ein biblisches Fremdwort, das sie nicht selbst hervorgebracht hat, zudem an ein solches, das seinen Sprecher nicht als den lässt, der er war.“ Es bilden sich Wort- und Wertungspaare – schön/anstößig sowie wir/Fremdwort. Ein Zufall?
Noch ein Zitat: „Das Tetragramm der Kabbalisten kann nicht ausgesprochen werden, selbst wenn man es wünschte; es ist ineffabile omnibus modis. Das Tetragramm des Talmudisten kann sehr wohl ausgesprochen werden, wird aber nicht; es ist nomen Dei scriptum, sed ineffatum. […] Das ist die befremdliche An-, nein: Zumutung, die vom hebräischen Tetragramm ausgeht. Erst hebräisch ist es sinnentblößt genug, um sich griechischem Sinnverlangen zu widersetzen.“ Auch hier beschreibt Bader den jüdischen Umgang mit dem Tetragramm an sich korrekt, auch wenn die lateinischen Formeln den Inhalt christianisieren. Die Wortwahl lässt aber nach und nach aufhorchen: „befremdlich“, „Zumutung“ etc. Ist es denn so schlimm, als Theologe immer wieder mit den jüdischen Wurzeln konfrontiert zu werden? Warum nur widersetzt sich der Hebräer dem griechischen Sinnverlangen, warum entblößt er sich dazu?
Und was ist mit der Theologie selbst? Da sieht Bader eher schwarz: „Der Name Gottes ist zerfallen, zersprungen, zerschlagen in Stücke, die Stücke abermals in Stücke, und die Sprache, die sich durch den Namen hatte sammeln lassen, ist verwandelt in einen Schutthaufen aus Buchstaben und einen Trümmerberg aus Lauten.“ Nach einem langen Derrida-Exkurs schlussfolgert Bader: „Das Tetragramm ist gerettet, indem es sich ausstreicht“. Seine Interpretation der Perspektive klingt dekonstruktivistisch: „Es ist die Selbstauslöschung, mit der sich der Name in den Text, und es ist die semantische Selbstzerstörung, mit der er sich in die Sprache ritzt.“ Hier knüpft Bader an den Anfang seines Buchs an, an die minutiöse Darstellung Luthers Studie „De nomine dei tetragrammaton“ (1519). Er ist fasziniert von dem wichtigen Detail der Originalausgabe, vom „einzigartigen Schauspiel, dass für einen Moment das fortlaufende Band der lateinischen Lettern bricht. Es entsteht eine Lücke, in die יהוה handschriftlich eingetragen werden sollte.“
Dieses Faszinosum zieht sich durch das Buch: „Das bloße Tetragramm in seiner unreduzierten Fremdheit gibt bereits viel zu denken. Aber so scharf Luther dies wahrnahm, angezogen davon war er mitnichten. Sein Urteil, der jüdische Gebrauch des Namens Gottes sei nichts anderes als abergläubischer Missbrauch und Blasphemie des Namens Christi, und die jüdische Weise der Heiligung des Namens stelle nichts dar als den fortgesetzten Verstoß gegen das Zweite Gebot: das lassen wir besser unkommentiert. Beim Nicht-Verhandelbaren steht Zeugnis wider Zeugnis. Unkommentiert bleibe daher ebenso die jüdische Stimme, die nur zu genau weiß, was Heiligung des Namens für Juden zu bedeuten hat.“ Im Anschluss darauf zitiert Bader aus einer Chronik über das Pogrom in Mainz am 27. Mai 1096, ohne mit einem Wort die Mörder beim Namen zu nennen.
Fassen wir zusammen: Bader vermeidet die Kommentierung der antijüdischen Positionen Luthers. Warum? Weil es aus Scham und Opportunismus „unglaubhaft“ wäre? Luthers Position ist für Bader „nichtverhandelbar“ und zumindest gleichwertig mit der jüdischen. Er sieht sich bei einer „Verhandlung“ und stellt Zeugnis gegen Zeugnis. Auf der einen Seite also ein Zeugnis –Luther würdigt 1519 den jüdischen Glauben herab, womit auch die weitere Wortwahl Baders einhergeht („befremdlich“, „Zumutung“ usw.). Auf der anderen Seite auch ein Zeugnis - an ihrem Glauben festhaltenden Juden werden von Kreuzrittern 1096 ermordet. Auch dies bleibt unkommentiert. Warum? In der feinfühligen Annahme, der Leser wisse Bescheid? Ich wage zu behaupten, der Leser hat etwa Simon Dubnows Bände der jüdischen Geschichte (mit dem passenden Kommentar zum Pogrom in Mainz sowie zu den antijüdischen Texten Luthers) eben nicht parat und kann den Zusammenhang so ohne Weiteres nicht verstehen. Im schlimmsten Fall sogar ganz im Gegenteil. Sind denn die gegeneinander gestellten Zeugnisse wirklich gleichwertige Prämissen? Bilden sie eine logische Argumentationskette? Anders gefragt, warum vergleicht Bader hier nicht Verfolgungen der frühen Christen mit den antijüdischen Pogromen und stellt Luthers Polemik nicht den Schriften Leo Baecks gegenüber?
Und jetzt zurück zur „jüdischen Theologie“. Bader will doch Luthers Quellen untersuchen und geht der „jüdischen Theologie“ nach. Zitiert werden dabei Pico della Mirandola, Reuchlin und Hieronymus, alles wohl gemerkt keine jüdischen Autoritäten, wobei beim letzten (bekannt für seinen Antijudaismus) Bader dessen besondere Bedeutung für Luther unterstreicht – „unter dem Aspekt der Absonderlichkeit“. Das sei für Luthers „Umgang mit jüdischer Theologie ebenso treffsicher wie stilbildend“ gewesen. Dann ist also alles in Ordnung.
Langsam dämmert es, was dabei gemeint ist: „Jüdische Theologie“ ist für Bader die Summe der Kenntnisse der christlichen Autoren über das Judentum. Im Buch zeigt er auch sein zweifellos umfangreiches Wissen über das eigentliche Judentum und differenziert, wie oben gezeigt, zwischen der Kabbala, der Talmudistik und dem rabbinischen Judentum, nur um daraus seine eigene Posttheologie abzuleiten. Weder der geschichtliche Kontext noch die aktuelle Situation der beiden Religionen werden explizit behandelt. Das Buch lebt im Geiste des Autors, wo Platon und Rosenzweig, Luther und Levinas Zeitgenossen sind und mit hohem Pathos Geheimnisse des Unaussprechlichen deuten. Alles, was passt, wird hier zu einem Teil christlicher Lesart; was nicht passt, bleibt unerwähnt.
Es gibt ganz sicher andere Bücher, andere Arten des christlich-jüdischen Umgangs miteinander. So viel zum aktuellen Stand des christlich-jüdischen Dialogs: Emergency! Nur durch die Emeritierung zu retten?
24. Februar 2008
Merkwürdigkeiten des christlich-jüdischen Dialogs
Durch die Arbeit am Artikel über das Buch von George Steiner bin ich auf das Thema "Kafka und der Talmud" gekommen. Das wird wohl ein Seminar werden. Bei den Recherchen dazu sind mir einige merkwürdigen Bücher aufgefallen, die den folgenden Aufsatz geradezu herausgeforderten. Glücklicherweise war auch die "Jüdische Zeitung" dieser Meinung (Februar 2008).
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Musikvermittler unter sich
Seit Jahren arbeite ich an dem Thema, wie man die Musik interpretiert - in der Aufführungskunst und im Wort. Viele Artikel, viele Seminare sind ein Resultat davon. So interessiert mich selbstverständlich, was Kollegen auf dem Gebiet machen. Es ist nämlich nicht immer goldig! Das fand die "Jüdische Zeitung" im Februar 2008 auch:
Schubert Germanicus
Nicht jeder will über Musik reden – die meisten Melomanen befürchten dabei einen viel zu großen Verlust an musikalischer Immanenz. Einerseits kann das ja auch passieren, wenn ein Meisterwerk in plumpe Banalitäten übersetzt oder in allzu technischen Begriffen nacherzählt wird. Andererseits gibt es zum Reden eben keine Alternative, denn nur über das gesprochene Wort verständigen wir uns und tauschen unsere Musikauffassungen aus. Besonders wortgewaltige Musikliebhaber schreiben ihre Klangvisionen auf – so wie Thomas Mann uns gelehrt hat. Mit den heutigen technischen Möglichkeiten ist eine neue Form der Musikvermittlung entstanden, von der das Radio insbesondere profitiert.
Einige der Musiksendungen sind inzwischen traditionsreich und beliebt. Oder besser gesagt, ihre Autoren. Einer der berühmtesten auf diesem Markt ist Joachim Kaiser. So auch zu Beginn des Jahres: Im Deutschlandfunk erklang seine Einführung in die Große C-dur Symphonie von Franz Schubert. Zwei Eigenschaften dieser Sendung machen sie besonders interessant und exemplarisch - die ernsthaft gemeinte Germanisierung des Gegenstandes und die normative Kunstauffassung.
Kaisers Schubert lebt in einem Geistesland. Weder biografische noch historisch relevante Details werden vermittelt, dafür umso mehr angedeutet bis ausgesprochen, wie germanisch seine Musik sei. Dazu gehören Begriffe wie Wandern, Wald, Schlösser und Echo. Wer sich dafür nicht interessiere, der könne Schubert nicht erschließen. Um das zu betonen, erzählt Kaiser sein privates Gespräch mit Gershom Scholem nach: Der Germane Kaiser fragte den Juden Scholem, ob dieser Lust habe, im Wald spazieren zu gehen. Darauf antwortete jener: „Wir Juden gehen lieber ins Kaffeehaus!“ Es folgt eine gut gemessene Pause. Währenddessen sollte einem jeden klar werden: Die Germanen gehen nie ins Kaffeehaus; Schubert wusste bestimmt nicht einmal, was das ist; Juden ihrerseits haben den Wald nie von innen gesehen. Wäre diese Anekdote eine Ausnahme, würde ich das für einen Anfall der Eitelkeit halten. Dem ist jedoch nicht so, weiter werden mehrere nichtgermanischen Persönlichkeiten eingeführt – betont unterstrichen wie „der Rumäne Celibidache“, der Schubert „behäbig“ spielte, sowie Bruno Walter, der aus unerwähnten Gründen „1933 emigrieren musste“ und „fast amerikanisch“ musizierte. Charles Mackerras schafft es nur bis zu „etwas substanzlos“: Der plappere ja nur, ihm fehle „das Emphatische“. Leonard Bernstein ermangelte es am „Geheimnisvollen“. Auch mit dem „abgründig Traurigen“ konnte dieser nicht viel anfangen: „Damit wird aber Entscheidendes versäumt“.
Es bleiben zwei, die alles richtig gemacht haben, - Furtwängler und Wand. Es erübrigt sich zu betonen, dass beider Germanischkeit sicher ist. Die besonderen Qualitäten der meisterhaften Aufnahmen werden in höchst pathetischer Sprache aufs ausführlichste gepriesen. Irgendwann am Ende der Sendung kommt dann doch die Krönung der Argumente: Die Furtwängler-Aufnahme 1942 sei deswegen besonders gelungen, weil sie aus der Zeit stamme, als „die Stalingrad-Katastrophe ankam!“ Sie ist tatsächlich aber bei Konzerten entweder am 30. Mai oder vom 6.-8. Dezember entstanden. Genau weiß man das bis heute nicht. Tja, wie auch immer, die sogenannte Katastrophe wurde aber im Januar real und erst im Februar 1943 der breiten Öffentlichkeit bekannt. Furtwängler konnte sie im Monat Dezember noch nicht spiegeln (im Mai noch weniger). Außerdem war er mit seinen Konzertreisen durch das besetzte Europa sowie mit der Wiener „Tristan“-Inszenierung noch zu ausgelastet, um sich über die eine oder andere bevorstehende Katastrophe Gedanken zu machen.
Karl Böhms Referenzaufnahme mit ihrer Wiener Färbung taucht nicht auf - ebenso wie „Österreich“, „Wien“ keinerlei Erwähnung finden. Ich könnte noch ein Dutzend sehr unterschiedlicher Dirigenten nennen, die ihren Schubert gefunden haben. Es gibt nämlich keine einzig richtige, für alle Zeiten mustergültige Interpretation.
Schubert durch Stalingrad zu ziehen, scheint eher Teil der Erinnerungskultur eines kriegstraumatisierten Menschen zu sein. Auch wenn diese Erinnerung, wie gezeigt, etwas verzerrt ist, bleibt sie durchaus ein Fakt: So hört Kaiser Schubert eben, das ist seine zeitbedingt entstandene Auffassung, die als privates Dokument sehr wohl ihre Berechtigung hätte. Nur wird sie als Mittel patriotisch orientierter Kulturdeutung ausschlaggebend eingesetzt. Eine deutsche Musikinterpretation als einzig wahre Norm - muss das sein?
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