14. Dezember 2007

Russische Juden in Deutschland

Die Jüdische Allgemeine Zeitung hat meine Meinung zum Thema "Müssen die offiziellen Vertreter jüdischer Gemeinden deutsch sprechen?" erfragt. Ich habe darauf positiv geantwortet. Gestern erschien dieser Text als meine Antwort auf die Frage: "Müssen Gemeindefunktionäre zwingend Deutsch sprechen?"

Selbstverständlich soll in den jüdischen Gemeinden hierzulande Deutsch gepflegt werden. Oder hätten wir in den vergangenen Jahren den deutschsprachigen Mitgliedern Russischkurse anbieten sollen?

Die russische Sprache wird vor allem von Senioren der Gemeinde weitergetragen. Die mittlere Generation kommt im Arbeitsleben ohne Deutsch nicht aus, Kinder und Jugendliche wuchsen meist schon in Deutschland auf. Sie sind heute kaum in der Lage, Russisch zu lesen und zu schreiben, und wenn sie ihr ungelenkes Russisch sprechen, dann im unsicheren Zwiespalt zwischen Familie und Außenwelt.

Auch wenn es unter älteren Menschen solche gibt, die die Sprachschwelle erfolgreich überwinden, so bleiben sie doch eher in der Minderheit. Die meisten konsumieren fast ausschließlich russisches Fernsehen sowie russische Zeitungen, sie kommunizieren in einer eigenen, zunehmend engeren Welt. Sie beklagen sich oft über den fehlenden Respekt seitens der Jugendlichen und definieren sich weiterhin über ihre Vergangenheit. Denken diese Nostalgiker an die Zukunft der Gemeinde? Ist es für sie in Ordnung, wenn sich eine jüdische Gemeinde in einen postsowjetischen Seniorenklub verwandelt? Welche Kultur leben sie den Jugendlichen vor?

Außerdem ist eine jüdische Gemeinde Teil des jeweiligen Stadtlebens und kann sich nur in ständiger Kontaktpflege mit allen Institutionen der Stadt behaupten. Alle offiziellen Repräsentanten müssen Interessen der Gemeinde wahren. Im Duktus Wladimir Kaminers kommen sie nicht sehr weit.

Wo liegt der wünschenswerte - und praktikable - Mittelweg? Es ist notwendig, alle Mitglieder in die Gemeinde zu holen und willkommen zu heißen. Mit verschiedenen Kulturprogrammen, Klubs und Vereinigungen bekommen russischsprachige Senioren die Chance, sich zusammenzutun, um unter anderem aus der Einsamkeit ihrer Sprachlosigkeit herauszufinden. Wenn sie sich aber nur einigeln, anstatt in der Stadt Kontakte zu knüpfen, dann war das alles umsonst. Darüber hinaus kann es sogar passieren, dass einige besonders eifrige Veteranen sich zur Mehrheit erklären und die Umstellung der Amtsführung und des Papierverkehrs auf Russisch verlangen, weil sie sich selbst für den Nabel der Gemeinde halten.

Wie lässt sich das vermeiden? Etwa so: zweisprachig nach innen, deutschsprachig nach außen. Innerhalb der Gemeinde sollte man alle Veranstaltungen, alle Verlautbarungen zweisprachig führen und dabei penibel auf das Gleichgewicht achten, denn sonst fühlen sich deutschsprachige Mitglieder sehr schnell vergrault. Im Kontakt mit anderen Gemeinschaften und Institutionen der Stadt muss man offen und diskussionsfähig sein - und lernen, anstatt sich dauernd zu schämen. Unter anderem von den eigenen Kindern und Enkelkindern, wie man sich erfolgreich integriert. Die jüngsten von ihnen schaffen es schnell und überwiegend vorbildlich. Ob sie auch als Erwachsene zur jüdischen Gemeinde gehören werden?

Um alle drei Generationen nicht aus den Augen zu verlieren, haben die Gemeindevorstände die folgenden unabdingbaren Aufgaben:
1.) Behutsames Anspornen der Älteren, damit sie sich nicht in sich verschließen.
2.) Aktive Verpflichtung der mittleren Generation, die ihren Kindern die Integration nicht nur in der Arbeitswelt, sondern auch in der jüdischen Gemeinde vorleben müssen.
3.) Freudvolles Einbeziehen der Jugendlichen und Kinder in den jüdischen Unterricht und die Weitergabe der jüdischen Tradition, allerdings nicht durch alberne Shows, die vom Fernsehen abgeguckt sind, oder Paraden, kopiert aus militarisierten Ferienlagern, sondern durch Lesen, Diskutieren, Lernen - damit sie "a kluger Kopf" werden. Hinaus aus dem sprachlichen Ghetto, hinein ins Leben!

7. Dezember 2007

Der Reichsorchesterfilm

Ende Oktober fand in der Galerie Katrin Rabus in Bremen eine Tagung statt. Das Thema war "Musik und Film" oder so ähnlich. Da in der Presse eine Premiere eines anspruchsvollen Films über die Geschichte der Berliner Philharmoniker angekündigt wurde, ging ich hin. Nach der Filmvorführung wurde diskutiert, mit der Beteiligung des Autors, der Enrique Sánchez Lansch heißt. Der Film "Das Reichsorchester" wurde etwas zu viel für meinen Geschmack gelobt. Der Film plus diese Lobhudelei haben mich zu dem folgenden Text veranlasst, den die "Jüdische Zeitung" freundlicherweise im Dezember-Heft 2007 gedruckt hat:

Vergangenheitsbewältigung mit Gefühl

Man stelle sich vor: Eine Institution wird auf einmal mit ihrer Naziverstrickung konfrontiert. Da es sich hier um mehr als nur um einzelne Personen handelt, stellt sich die Frage: Wie geht man vor?

Die Berliner Philharmoniker sind in der Gegenwart angekommen, anscheinend durch ein Buch des kanadischen Autors Misha Aster, in dem er die bittere Realität des gesamten Mitläufer-Orchesters beschreibt. Wie kann man diesen nie getilgten Konformismus in der eigenen Geschichte verarbeiten?

Richtig: Man holt einen hauseigenen Regisseur und bestellt einen Film, der die Fakten nach dem Prinzip einerseits-andererseits versöhnlich arrangiert. Dann ist man eben einerseits mit der eigenen schlimmen Vergangenheit konfrontiert (in einer delegierten Form zwar, aber wer wird das schon laut sagen!), andererseits reift beim geneigten Zuschauer eine entlastende Erkenntnis heran: Das war wohl gar nicht so schlimm, denn es war ja nur menschlich, allzumenschlich, oder wie man so schön journalistisch schreiben kann – teils verständlich. Das Thema wird auf diese Weise an das Publikum delegiert.

Wie macht man das? Ganz einfach, nämlich emotional. Ins Zentrum werden zwei ehemalige Musiker des Orchesters geholt, beide wunderbar nett, warm, herzlich. Der eine sagt, das Orchester sei kein Nazikörper gewesen, der andere sagt, es sei ihm schon peinlich gewesen, mit dem Geigenkasten durch die zerbombte Stadt zu laufen, während andere Männer eingezogen waren. Der eine sagt in etwa, „uns hat die Liebe zur Musik geeinigt“, der andere, „man hat uns ausgenutzt“. Der eine erinnert sich, dass man mit den wenigen, aber bitte wirklich wenigen Nazis im Orchester kaum gesprochen habe, der andere erinnert sich, wie Juden aus dem Orchester entfernt wurden. So geht das weiter, und durch die schonungsvolle Montage erfährt der Blick, auf wessen Seite der Autor steht, insbesondere als am Ende des Streifens der groß und langsam gezeigte zweite Musiker keine Worte mehr findet, während er durch die Ersatzräume für die ruinierte Philharmonie geführt wird.

Unterm Strich: Bilder und Worte der zwei Zeitzeugen sind kostbar, sie sind ein Dokument für sich. Bestünde der Film nur daraus, sähe ich mich im weiteren nicht gezwungen, kritisch zu werden.

Es gibt im Film viel Musik. Fast alles längst bekannt und jedem zugänglich. Zwei seit langem allzubekannte Dokuaufnahmen aus dem Jahr 1942 werden klein gehackt und mehr als nur mehrfach verwendet, als wären sie die zahlreichen verschiedenen Quellen. Einmal spielt Furtwängler mit dem Orchester den Schluss der Neunten Beethovens am Vorabend von Hitlers Geburtstags vor den erstarrten Nazis. Ein andermal bringen dieselben das Meistersinger-Vorspiel Wagners an die gerührte Volksgemeinschaft. Erstens werden diese Schnitte ausschließlich als Bilder genommen und vervielfältigt. Die Wirkung der Musik bleibt unausgesprochen. Warum ist das Tempo im ersten Fall einmalig rasend, so dass sich die Utopie der Menschenverbrüderung in die Antiutopie umkehrt? Warum wirkt die zweite Interpretation so stinklangweilig? Der Film weiß das nicht, merkt das nicht, weiß mit dem Widerspruch zwischen Bild und Musik nicht umzugehen.

Zweitens übernimmt der Autor diese Bilder, ohne sich Gedanken zu machen, dass sie ein Produkt der Nazipropaganda sind. Im ersten Fall ein begeisterter Goebbels gegen einen verrückt um sich herum schlagenden Furtwängler – der Obernazi als Oberkunstkenner. Im zweiten Fall unzählige ausdrucksstarke Gesichter aus dem Volke – die Kunst hilft die schwere Zeit durchzustehen („nie kapitulieren“ usw.). Furtwängler bleibt auch hier mit seinem unverständlichen Wuchten ein Störfaktor.

Drittens werden, wie gesagt, kleinste Fragmente dieser beiden Aufnahmen immer wieder kommentarlos zitiert. Sie begleiten die Erzählung des Films in seiner Chronologie, als wären sie authentisch in ihrer Zeitfolge. Sie suggerieren eine Realitätsnähe, ohne diese zu besitzen. Sie dienen als Bild für die Jahre 1943, 1944, sogar 1945, obwohl sie nur für das Jahr 1942 stehen dürften.

Am Rande sei noch bemerkt, dass der eingeführte Ausschnitt mit Erich Kleiber kaum für die geschilderte Zeit stehen kann oder wenigstens eines Kommentars bedürfte, und zwar warum dieser Dirigent Nazideutschland verlassen musste. Unverständlich bleibt auch das Fehlen des „Herrn K.“, wie Furtwängler Karajan titulierte. Dieser wird im Film erst für die Nachkriegszeit erwähnt und auf diese Weise behutsam aus der Schusslinie genommen.

Am schlimmsten empfinde ich aber den Umgang mit der Bilderästhetik der Nazizeit. Der Autor übernimmt kommentarlos Fragmente aus den inszenierten Fresken Riefenstahls sowie aus zahlreichen Propagandafilmchen. Nur die Darstellung Hitlers wird an einer Stelle verfremdet, alles andere - eins zu eins wiedergegeben. Nur einmal setzt der Autor Bilder der Ruinen und Explosionen zu den herzergreifend pathetischen Gesichtern der Furtwängler-Zuhörer dazu. Dieser lockere Umgang mit dem Material ist unsystematisch für sich – weder ein strenger Dokumentarfilm noch ein betonter Autorenfilm. So entsteht eine Manipulation, die sich hinter fremdem Material versteckt oder es für sich ausnutzt, nach Belieben: einmal so, einmal andersherum.

Im Grunde sehe ich darin eine merkwürdige Tradition, die von Riefenstahl über Guido Knopp zu diesem Film führt – es geht mir hier um die Methode, eine Realität zu suggerieren, ohne dass der Zuschauer sicher sein kann, ob er die Wahrheit erfährt: Emotionale Bilderfolge mit der bewegenden Musik im Hintergrund; Zeitzeugen ohne Zahl; die Montage nach ästhetischem Prinzip, wo die Fakten weniger wichtig sind. Wenn dem aber so ist, dann soll man sich fragen, was diese Bilder sagen.

Beispielhaft finde ich in diesem Sinne eine Auslassung. Am Ende der ersten erwähnten Dokuaufnahme schüttelt Goebbels die Hand Furtwänglers. Acht Sekunden später verlegt dieser sein Taschentuch in die rechte Hand. Im Film „Taking sides“ schneidet István Szabó die Sekunden dazwischen heraus und macht daraus eine winzig kleine, wenn auch absolut unrealistische Protestgeste. Enrique Sánchez Lansch lässt die Szene komplett aus, nutzt sie nicht. Mit einem knappen Satz erwähnt der Film, dass Furtwängler das Orchester seit Februar 1945 nicht mehr dirigiert und in Österreich ist, später in der Schweiz. Weder die Hintergründe dieser Flucht noch das große Warum werden beleuchtet, nicht einmal angesprochen. Ein Beispiel der anderen Art: Orchestermusiker haben die Ruinen Rotterdams sehen können und seien darüber erschüttert gewesen – das wird hineinerzählt, das Menschliche.

Das große Problem dahinter: Wie erzählt man die wahre tragische Geschichte, ohne dass es weh tut? Die große Frage hätte aber anders gestellt werden müssen – soll man von dieser Prämisse ausgehen?

Die Reaktion in der Presse: Die meisten Zeitungen sehen ihre Aufgabe in der Werbung für den Film und loben dementsprechend endlos. Der „Tagesspiegel“: „teils atemberaubende Filmdokumente“, „präzise und besonnen“. Mein Resümee dagegen: keine neuen Filmdokumente, unpräzise und viel zu besonnen. Die „Welt“: „Den einzigen Satz der Reue sagt der großartige Hellmut Stern, eines der wenigen jüdischen Mitglieder nach dem Krieg: "Ich hab' nie gefragt."“ Ich sehe darin keine Reue, sondern die Feststellung: Es war unmöglich, danach zu fragen. Oder müssen es immer wieder die Juden sein, die Fragen stellen? Und weiter: „Dieser Film, erschütternd kleinlaut und konkret, sagt über Vergangenheitsbewältigung in Deutschland mehr aus als Geschichtsstunden.“ Im gewissen Sinne, ja - nur anders, als die Zeitung meint. Wenn „von damals vor allem Gefühle übrig geblieben sind. Nämlich unsere eigenen.“ – Dann stimmt etwas mit dieser Bewältigung nicht, dann wurde sie viel zu viel solchen Meistern der Gefühle überlassen wie Martin Walser.

Mehr Fakten, Klarheit und Position wären besser. Ehrlicher. Auch wenn es dem einen oder dem anderen, möglicherweise sogar sehr vielen wehtun würde. Ohne Schmerz kann man nämlich nichts bewältigen. Das gibt es nicht.

29. November 2007

Tony Judt wollte schon immer Hannah Arendt heissen

Tony Judt bekommt den Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken. Die Heinrich-Böll-Stiftung hat die Öffentlichkeit darüber am 9.11.2007 informiert. Der Preis wird am 30.11.2007 in der Oberen Rathaushalle der Stadt Bremen durch die zweite Bürgermeisterin Karoline Linnert verliehen. Die Jury war sich offensichtlich einig. Dazu gehören (Link):

Prof. Antonia Grunenberg (Oldenburg/Berlin), Dr. Willfried Maier, (Hamburg), Dr. Otto Kallscheuer (Berlin/Sassari), Prof. Zdzilslaw Krasnodebski (Bremen/Polen), Zoltan Szankay (Bremen), Prof. Tine Stein (Berlin), Prof. Simona Forti (Turin/Italien).

Es gab keine Proteste, keine Differenzen, die die Öffentlichkeit erreichen würden, weder innerhalb der Jury noch im Hannah-Arendt-Verein bzw. in der Heinrich-Böll-Stiftung Bremen (immerhin 22 Mitglieder). So musste die Jüdische Gemeinde Bremen allein agieren. Elvira Noa und ich haben einen Offenen Brief geschrieben, der hier komplett veröffentlicht wird. In einem weiteren Beitrag werde ich Reaktionen darauf analysieren. Vorerst aber folgt der Text selbst, der am 21.11.2007 nach mehreren Tagen der Wartezeit öffentlich gemacht wurde:


Offener Brief
An die Hannah-Arendt-Jury, die Heinrich-Böll-Stiftung, den Bremer Senat anlässlich der Hanna-Arendt-Preisverleihung 2007

Es ist bekannt, dass die Sprache dem Menschen gegeben wurde, um seine Gedanken zu verbergen. Wir haben noch nie von einer Deutschlandkritik oder Frankreichkritik gehört, von der Israelkritik lesen wir aber täglich. Wenn einer - Jahr ein Jahr aus - sagt: Israel sei „umstritten“, „gehasst“, „ein Besatzer und Kolonialist“, „eine strategische Belastung“, „ein politischer Anachronismus“ etc., stellt sich die Frage, was das soll?

Wir würden sagen, das ist keine Kritik an einer Regierung, sondern eine antiisraelische Haltung. Man kann sich vorstellen, dass eine Gruppe empörter oder unzufriedener Bürger eines Landes in etwa eine solche Position annehmen könnte, aus Patriotismus oder andersherum. Wenn aber ein Außenstehender so etwas tut oder, besser gesagt, sehr viele besorgte Menschen nichts anderes tun, als solche antiisraelische Äußerungen in die Welt hinauszuposaunen, dann fragt man sich, welche Gründe es dafür gibt, wo doch alle anderen Staaten bei viel größeren Problemen darüber irgendwie besser wegkommen? Noch pikanter ist es, wenn einer erst durch solche Äußerungen prominent und mit Preisen überschüttet wird.

In der Jurybegründung wird peinlichst genau vermieden, nur ein einziges Wort über Judts Verdienste auf dem Gebiet des palästinensischen ideologischen Kampfes zu verlieren. Als Erbe Edward Saids vertritt er die offizielle palästinensische propagandistische Sicht auf die Geschichte, samt der erfundenen und verdrehten Fakten sowie des antiisraelischen Vokabulars.

Wenn das das politische Denken ist, für welches in Bremen 2007 ein Arendt-Preis verliehen wird, sowie in Wien 2007 ein Kreisky-Preis, dann sollte man das vielleicht auch direkt so sagen?

Judt ist als Historiker bei weitem nicht so anerkannt und gepriesen wie der Israelkritiker Judt. Der Historiker Judt erzählt in seinem Europa-Buch viele Geschichtchen, ohne dass daraus ein System bzw. eine Vision der Geschichte entsteht. Soll das tatsächlich der Grund sein, einen Hannah-Arendt-Preis zu bekommen? Der politische Denker und Essayist Judt ist der Poet eines Themas – Israel ex negatio. Seine Methode ist es, Zitate, die seine Meinung untermauern, zu manipulieren oder schlicht zu erfinden. Sein Programm des binationalen Staates ist, nach treffenden Worten Leon Wieseltiers, „keine Alternative für Israel“, sondern „die Alternative zu Israel.“ Die beiden letzten Aspekte werden in der Jurybegründung mit großem Schamblatt zugedeckt. Für wen ist es kein offenes Geheimnis? Für unsere Politiker, die über Judt erst durch die PR-Kampagne der Süddeutschen Zeitung erfahren haben? Dort gehört er zu der ausgesuchten Gruppe „guter Juden“, die antizionistische Klischees aussprechen, die einem deutschen Autor nach Möllemann schlecht zustehen.

Man würde uns sagen, das sei Demokratie, man solle das Recht des Anderen anerkennen, eine andere Meinung zu äußern. Klar. Wir sprechen der Bundeskanzlerin einen Leo-Baeck-Preis zu, vor allem dafür dass sie das Existenzrecht Israels mit ihrem Engagement sichert. Können wir glauben, dass gerade dem Senat Bremen nicht bewusst ist, dass er einem „guten Juden“ (dessen absurde Vorstellungen, sollten diese verwirklicht werden, Israel und auch die Palästinenser in die sichere Katastrophe führen würden) den Hanna-Arendt-Preis verleiht?

Einerseits ist da jener Preis, benannt nach Leo Baeck, einem Juden, der in Nazideutschland gerade noch überlebt hat, andererseits hier ein Preis, der den Namen Hannah Arendt trägt, einer Jüdin, die aus Nazideutschland gerade noch rechtzeitig fliehen konnte. Will man auf solche Weise ein gutes Gewissen herzaubern, indem man sagt, Hannah Arendt sei eine Kritikerin Israels gewesen – die Preisverleihung an Judt geschehe ihr ganz recht? Wir würden dies als Pietätlosigkeit bezeichnen.

Eventuell könnte die Jury auch die rechtsgerichtete Presse zum Interview mit Tony Judt einladen. Er hat darin Erfahrungen und bedauert es nicht.

Wir sind irritiert. Auch darüber, dass die Preisverleihung an einem Freitag-Abend und die Diskussionsveranstaltung an einem Samstag-Morgen stattfindet. Jüdinnen und Juden, die traditionell den Shabbat begehen, sind also von der Teilnahme ausgeschlossen.

Präsidium der Jüdischen Gemeinde Bremen

Elvira Noa, Dr. Grigori Pantijelew

16. Oktober 2007

Lustiger bei dpa

Bei der Zusammenstellung der Eilmeldung über den Tod des Kardinals Lustiger hat die dpa Anfang August etwas zu schnell agiert. Ich musste recherchieren. Den Text wollte nur Hagalil-Seite (Link).

Wie der Nationalsozialismus entdeckt wurde

Mehrere deutsche Zeitungen haben die dpa-Eilmeldung über den Tod des französischen Kardinals Lustiger übernommen, darunter „Die Zeit“ und der „Weser Kurier“.
Im Online-Angebot der „Zeit“ kann man immer noch lesen:

„Während eines Deutschlandaufenthalts im Jahr 1937 entdeckte er den Nationalsozialismus und entschloss sich, zum Katholizismus zu wechseln. Seine Mutter starb 1943 in Auschwitz.“

Er also war es, er hat den NS „entdeckt“ (vielleicht sogar patentiert). Diese Entdeckung brachte ihn dazu, sofort zum Katholizismus überzutreten (eine Selbstverständlichkeit). Seine Mutter war offensichtlich touristisch interessiert, denn sie starb auf einer polnischen Reise.

Mir stellen sich einige Fragen. Wie konnte dieser Text entstehen, die Redaktion in der Agentur frei passieren und von den Zeitungen unkorrigiert übernommen werden? Meine Recherche führte mich über mehrere Stationen. Ich landete bei der dpa in Hamburg. Der verantwortliche Herr bezeichnete im freundlichen Gespräch spontan diese Sätze als „blöd“, bedankte sich für Kritik und versicherte mir, solch ein sprachlicher bzw. stilistischer Fehler ließe sich nachträglich nicht korrigieren. Was macht man dann damit, wollte ich wissen? Man sperrt die unglücklich formulierte Nachricht, die infolgedessen nicht mehr im Angebot erscheint.

Ich ließ mich mit der französischen dpa-Korrespondentin verbinden. Sie war nicht weniger nett und plädierte auf mildernde Umstände. Sie habe maximal 6 Minuten für den achtzeiligen Text zur Verfügung. Zugrunde liege die Meldung aus dem Online-Ticker der französischen Zeitung „Le Figaro“, woraus sie das Verb „decouvrir“ übernommen und mit „entdecken“ übersetzt habe. Sie habe zu Hause am späten Abend keine Quellen zur Hand und müsse unter Druck schreiben: Möglicherweise schaffen es die anderen Agenturen schneller? Man möge das doch verstehen. Schließlich ist die Schnelligkeit in dem Geschäft wichtig. Hat sie den Originaltext abgespeichert? Nein. Auf der Internetseite des „Figaro“ lässt sich nämlich der ursprüngliche Text nicht mehr finden. Aber ich glaube der netten Frau.

Ich recherchiere über die Suchmaschinen, und im Nu bin ich bei einem Wikipedia-Artikel oder bei anderen Quellen, die mich aufklären: Den jüdischen Knaben Aron Lustiger schickten seine Eltern 1936-37 aus Frankreich nach Deutschland zu einem evangelischen Pensionat, er war zu der Zeit 11 Jahre alt. Während dieses Aufenthaltes wurde er mit dem aggressiven Judenhass und seinen Folgen konfrontiert. 1940 konvertierte er als 14-Jähriger gegen den Willen seiner Familie. Seine Mutter wurde zwei Jahre später nach Auschwitz deportiert und starb in Birkenau, was einen qualvollen Tod in einem Vernichtungslager bedeutet.

Kann man einer Journalistin im Dienst zumuten, selbständig in 6 Minuten darauf zu kommen? Sind wir soweit, dass Wikipedia als Quelle valider ist als die dpa?
„Oft ist das Denken schwer,
Indes das Schreiben geht auch ohne es“ (W. Busch).

Sind etwa Arbeitsbedingungen daran schuld?

So wurde also der Nationalsozialismus entdeckt. Soll es unbedingt so lustig mit Lustiger werden?

Unsere Solidarität mit Sderot

Im Sommer 2007 gab es genug traurige Anlässe über den ununterbrochenen Kassam-Beschuss der israelischen Stadt Sderot zu schreiben, der auch heute tagtäglich weitergeht. Der folgende Artikel ist im August-Heft der "Jüdischen Zeitung" erschienen.


„Seid nicht so traurig!“

Dr. Ruthie Eitan, Dozentin am Sapir-College unweit von Sderot, kam im Juni zu einer Vortragsreise nach Deutschland. Wohlgemerkt auf die Vermittlung der israelischen Botschaft hin. Sie erzählte vom Leiden der Studenten und Mitarbeiter, die unter ständigem Beschuss leben.

Das College liegt 800 Meter vom Gazagebiet entfernt. Seit 2001 brachten mehrere Tausend Raketen in Sderot und auf dem College-Gelände Tod, Verwundung, Zerstörung und verbreiteten die Atmosphäre von Terror. Wenn Warnsirenen ertönen, vergehen 10 bis 15 Sekunden bis zum Einschlag einer Rakete. In dieser Zeit kann man sich von den Fenstern entfernen, nicht aber den Weg in die Schutzräume finden. So leben Menschen nicht Tage, nicht Wochen, nicht Monate, sondern Jahre! Sie können nicht schlafen, reagieren mit Angst auf jegliches Geräusch – und halten zusammen, denken nicht daran, anderswo hinzugehen.

In den ersten fünf Jahren wurde eine Schweigepflicht auferlegt: Der Präsident des College Tsahor hielt es für besser, wenn man sich stoisch zeigt. Nach dem Motto: Die Terroristen können uns nicht bezwingen. Diese Haltung spiegelt sich auch in deutschen Meinungen wider, so stellte zum Beispiel der Friedensforscher Ekkehart Krippendorff fest: „Dass da wohl bisweilen noch eine harmlose handgebaute Rakete niedergeht, bringt niemanden aus der Ruhe“ (2001). Was soll’s? Der soeben zum Präsidenten Israels gewählte Friedensnobelpreisträger Schimon Peres tat die x-te Nachricht von Raketeneinschlägen mit einer himmelschreiend herablassenden Ironie als „Kassam-Schmassam“ ab (2006). Der einzige deutsche Austauschstudent Eckard Sussenburger verstand die Situation vor Ort auch „richtig“: „Meine Freunde zu Hause hatten sicher mehr Angst um mich als ich selbst. Man hat in Sderot außer den Alarmen nicht das Gefühl, im permanenten Ausnahmezustand zu leben. Dabei konnte ich manchmal nachts nicht schlafen, weil die israelische Artillerie nicht weit von meinem Wohnheimfenster nach Gaza hinein gehämmert hat oder Helikopter über den Dächern gerattert haben“ (2007).

Inzwischen erlaubt der Präsident Tsahor über die Raketen und deren Folgen zu sprechen. Die Bewohner der Stadt Sderot und des Sapir-College können über ihr Unglück so viel reden, wie sie wollen: Die Regierung, die breite Öffentlichkeit, die Medien Israels nehmen die alltäglichen Berichte über Einschläge gerne zur Kenntnis. Und rühren sich nicht.

So geht Ruthie Eitan auf ihre Reise und erzählt mit ruhiger Stimme Einzelheiten, die kaum gleichgültig lassen. Wenn die Zuhörer soweit sind, dass sie für eine Weile betroffen schweigen, tröstet sie sie: „Ach, seid doch nicht so traurig!“
Eine Lieblingsfrage ist wie immer dieselbe, ob sie die Palästinenser hassen würde? Ach nein, sagt Frau Eitan, das sind doch einfache Menschen, die den Frieden wollen, was können sie für ihre Politiker. Das Publikum gibt nicht so leicht auf: „Und diejenigen, die Raketen abschießen, herstellen, transportieren? Hassen Sie sie?“ Da ist Ruthie auf einmal aufrecht: „O, diese Frage ist mir neu. Darüber haben wir noch nicht nachgedacht. Das muss ich meinen Kollegen erzählen.“ Sie erklärt - als ob es eine vollkommene Überraschung wäre, - dass alles, was zum Bau der Raketen benötigt wird, aus Israel kommt, inklusive Strom, Wasser, Chemikalien. Dann will sie von weiteren Friedensprojekten erzählen.

So geht der Wahnsinn weiter. Romano Prodi hat Sderot besucht (zur gleichen Zeit als Dr. Eitan Deutschland bereiste) und sagte: „Es ist unmöglich, so zu leben.“ Nicht einmal Franz Kafka oder Roald Dahl hätten das erfinden können, das hat aber die Geschichte schon geschrieben. Und wieder sagen Juden: Seid doch nicht traurig, wir bleiben da, wo wir sind.

Im Grunde genommen ist es eine tragische Frage von biblischer Tiefe. Soll man angesichts des unlösbaren Konflikts das Leben von 7000 zum Teil minderjährigen Studenten schützen oder sie standhafte Helden spielen lassen?

Die deutsche Öffentlichkeit weiß inzwischen über die Lage in Sderot: Der Presseball 2008 will seinen Erlös dem Sapir-College spenden. Juden als Opfer des verlogenen Friedens sind uns willkommen. Dass sie da und so bleiben, das wollen wir unterstützen, klar.


Ruthie, wie geht es euch?

31. Juli 2007

Auf einer Tagung

An einem Juni-Tag fand in Berlin eine Tagung, "Gegen Antisemitismus", statt. Ich war dabei und habe schon wieder einen Grund zu meckern gefunden. Das Resultat kam auf die erste Seite der "Jüdischen Zeitung" im Juli 2007:

Ratlose Nestbeschmutzung

Einige von uns stellen erstaunt fest, der Antisemitismus verbreite sich schon wieder – sogar exponentiell. Von Prominenten – bekannt als Gewissen der Nation – hören wir dazu nichts. Politiker dagegen sind politisch korrekt und empörungswillig, wenn gerade eine Kamera läuft. Führt das Schweigen der einen wie das Gerede der zweiten zu irgendwelchen Taten?

Der einzige Bericht über aktuelle und geplante Maßnahmen der Bundesregierung gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Gewalt kam 2002, trotz des Widerstandes seitens der CDU/CSU-Fraktion (diese könne ja nicht das unterstützen, was die PDS begrüßt). Weil er offensichtlich zu wenig gelobt wurde, bot die Regierung keinen weiteren an. Die Öffentlichkeit hat es hingenommen, weil sie die aktuelle Regierung seit je für die bestmögliche hält. Nur einer hat sich mehr gewünscht: Arno Lustiger. Er schrieb alle Bundestagsabgeordnete an und forderte einen alljährlichen Bericht der Regierung zur Antisemitismusbekämpfung. Seine Anfrage wurde erfolgreich totgeschwiegen. So folgte im Juni 2007 die nächste Petition an die Regierung, verabschiedet von der Koordinierungskonferenz deutscher NGOs „Gegen Antisemitismus in Deutschland und Europa“. Eine durchaus gute, viel versprechende Sache: Die Nachricht darüber wurde in einem Internetportal sogar von zwei (!) Nutzern gelesen.

Angesichts dieses medialen Nachhalls möchte ich die Idee des Berichts mit zwei Kommentaren ausdrücklich befürworten.

Erstens: Die Koordinatoren schämen sich für den Antisemitismus «in diesem unserem Lande» und wissen im Voraus, dass sie dafür von hohen Beamten aus der Außen- und Innenpolitik zu Nestbeschmutzern ernannt werden. Um dem Diffamierungsvorwurf zuvorzukommen, wurden Vertreter aller Bundestagsfraktionen ins Centrum Judaicum eingeladen und obendrein eine Bundestagsvizepräsidentin. Sie erzählten einander brav: Juden «waren und sind der Test für die deutsche Demokratie. […] Ging man gut mit den Juden um, dann sah es gut aus mit der Demokratie in Nachkriegsdeutschland» (Paul Spiegel im Jahr 2002). Dies steht im mahnenden Grußwort des israelischen Botschafters. Bei allem Respekt: Ich würde ein anderes Zitat für passender erachten: «Die Folgen des Antisemitismus sind wesentlich fataler für die gesamte deutsche Gesellschaft als für die Juden» (Paul Spiegel im Jahr 2003). Und wenn einige Teilnehmer der Konferenz darauf mit gebührendem Pathos selbst gekommen sind, fragt man sich, warum muss man einander das immer wieder neu erzählen?

Zweitens: In ihrem Grußwort erzählte Petra Pau von ihrem Unbehagen nach einem antisemitischen Angriff auf eine Kindertagesstätte: «Als wir uns danach in der Synagoge zum solidarischen Gebet sammelten, fragte ein Rabbiner: „Wie soll ich das den Kindern erklären?“ Ich habe den Umgang mit Kindern erlernt, studiert und als Lehrerin praktiziert. Aber auf diese einfache Frage habe auch ich keine Antwort. Ich war ratlos.»

Mich wundert es nicht, wenn ein Rabbiner diese Frage nicht beantworten kann. Dass aber eine der prominentesten Politikerinnen Deutschlands derart ratlos ist? Wenn von solchen «Stützen der Gesellschaft» wie Innen- und Außenministerium, wie gesagt, ein «Nestbeschmutzung»-Ruf erwartet wird und von der Spitze des Bundestages eine «Ratlos»-Antwort kommt, ist das nicht etwas zu schwach, an entscheidenden staatlichen Stellen?

Wie wäre es mit etwas mehr Zivilcourage? Nicht nur bei den anderen anmahnen und einfordern? Wenn die Politiker - jeder in seiner Partei, in seinem Gremium, - die eigenen Möllemanns direkt zurückweisen würden, anstatt diese Aufgabe den NGOs zu übertragen, wenn sich diese letztgenannten tatsächlich darauf einigen, die unzureichenden Maßnahmen der Regierung und die Missstände bei den Medien zu kritisieren, und dabei noch eine beachtliche Öffentlichkeit erreichen, dann… Dann wird die Regierung sich überlegen, wie sie das alles vermeiden kann, indem sie zum Beispiel auch diese Forderung eines jährlichen Berichts zur Antisemitismusbekämpfung ignoriert. Warum soll sie sich eigentlich selbst verprügeln lassen?

Und wie mit der Kritik umgangen wird, haben die Chefetagen der ARD- und ZDF-Redaktionen unlängst meisterhaft vorgeführt (Stichwort „Mediatenor“). So erklärte auch Wolfgang Schäuble schon 2002 vorbildlich: «Ich bin dafür – darin sind wir uns einig –, dass wir Missstände und Fehlverhalten mit aller Entschiedenheit bekämpfen. Aber ich bin dagegen, dass wir den Eindruck erwecken, dass überall in Deutschland Minderheiten und Ausländer von der Mehrheit der Bevölkerung verfolgt oder diskriminiert werden. Das Gegenteil ist der Fall. Deswegen sage ich noch einmal: Wir sind ein ausländerfreundliches, tolerantes Land und wir wollen es auch in der Zukunft bleiben.»

Wer will da bitteschön noch einen Bericht?

Juden in Deutschland

Konflikte zwischen den russischsprachigen und deutschsprachigen Juden in Deutschland werden oft thematisiert, nicht aber deren Hintergründe. Der folgende Artikel beschäftigt sich damit. Interessanterweise wurde er immer noch nicht gedruckt (warum nur?!).

Kollegen von der Hagalil-Seite haben ihn freundlicherweise online gestellt, so dass ich ihn hier verlinke (Link) und auch komplett stelle.

Inzwischen hat Chaim in seinem Blog diesen Text vorgestellt (herzlichen Dank dafür!) - soweit ich ihn verstanden habe, positiv (Link).

Weltjudentum oder Schtetl?
Ein jüdischer Seemann landet in China und geht spazieren. Unterwegs entdeckt er eine Synagoge und tritt ein. Drin sitzen neun Chinesen in Kippot an Siddurim. Erfreut darüber, schreit er auf: „Ich bin der Zehnte, wir haben Minjan!“ Ein Mann, offensichtlich Gabai, geht auf ihn zu und sagt: „Schön, nur schade, dass Sie nicht jüdisch aussehen.“

Einerseits werden überall neue Synagogen eingeweiht, andererseits regelmäßig antisemitische Sprüche entlarvt. Erfreulicherweise folgen dem Synagogenrausch sowie der Jagd nach Antisemiten Gedanken, wozu das alles gut sein soll: Was wird wohl aus den Juden in Deutschland?

Und das geht so: Das einwanderungsfreudige Deutschland unterscheidet immer noch zwischen deutschen und nichtdeutschen Bürgern, auch wenn sie alle den deutschen Pass haben. Nichtdeutsche Deutsche? Egal wie sie genannt werden - die Mehrheit der Gesellschaft sieht sie als genehmen oder ungenehmen Zusatz. Nichtdeutsche deutsche Bürger werden allerdings sowohl nach dem Gesetz als auch in der öffentlichen Meinung eher ihrer jeweiligen Religion zugeordnet: Von Juden, zum Beispiel, wird erwartet, religiös zu sein, sonst sind sie keine Juden. Betrachtet der säkulare Jude sich aber selbst als Jude? Wie sieht seine Beziehung zu seiner Gemeinde aus und umgekehrt? Wird er dort als volles Mitglied akzeptiert?

Zwei Juden, drei Meinungen. Das kennt jeder. 120.000 Juden, wie viele Meinungen - wer weiß das schon? Die Frage lautet leider in Wirklichkeit anders: Wer will das wissen? Denn sie selbst, die Juden, wissen voneinander viel zu wenig.

Die hierzulande in überwiegender Mehrzahl lebenden Russischsprachigen lesen kaum Deutsch, umgekehrt noch weniger. Meist verstehen sie einander gar nicht. Dies spiegeln Publikationen in jüdischen Zeitungen und Gemeindeblättern wider - in Russisch geschrieben, oft anonym. Darin erklären die älteren Immigranten auch warum - nämlich aus Angst vor angeblicher Verfolgung in der eigenen Gemeinde. Eine der größten Sorgen der russischen Juden gilt den nichtjüdischen Verwandten, die zwar nicht zur Gemeinde nach dem für sie neuentdeckten jüdischen Gesetz gehören, aber doch als Familienmitglieder im früheren Sowjetleben so viel mitgelitten haben. Anstatt diesen Wunsch, die Angehörigen in die Gemeinde mitzunehmen, als ureigenen Ausdruck judischer Mitmenschenliebe zu verstehen und eine würdige Lösung zu finden, wird aus dem Problem ein Dogma gemacht, um dessentwillen man einander ideologisch bekämpft. Von hier aus ist es nur ein kleiner Schritt zum Lieblingsthema, nämlich wer der bessere Jude sei.

Die deutschsprachigen Juden hingegen ziehen sich eher zurück. Wenn sie sich in eine Kulturveranstaltung ihrer Gemeinde verirren, verstehen sie nichts: Es wird in Russisch moderiert und selten übersetzt. Einmal genügt normalerweise, keiner von ihnen kommt wieder. Die meisten gehören fast ausschließlich zu den traditionell geprägten Familien der ehemaligen Displaced Persons und können ihr Wissen den Neuangekommenen kaum vermitteln, viel mehr sind sie Träger der einen, ihnen als einzig wahr bekannten, deutlich reduzierten, aber verbissen verteidigten Tradition. Auch hier ist unterschwellig das Lieblingsthema dasselbe, wer eigentlich der richtige Jude sei.

Versuche, das liberale Judentum wiederherzustellen, sind weniger den Forderungen der Realität entsprungen als dem historischen Denken - dem an sich berechtigten Verlangen, das jüdische Leben in Deutschland wieder so herzustellen, wie es einmal war. Ein kleiner Teil der neubekehrten, vom Sowjetsystem geprägten Menschen entdeckt für sich dagegen die Frömmigkeit der Orthodoxie und orientiert sich an hassidischen Relikten, dazu noch in einer bizarr verzerrten Form, wie in einem Schtetl. Der Buchstabe des Gesetzes gilt ihnen mehr als sein Geist und wird für sie zum Ersatzdogma, so zeigen sie sich feindselig gegenüber kleinsten Abweichungen.
Es sind unterschiedliche jüdische Ideen, die aufeinanderprallen. Wie soll das wohl weiter gehen? Eine mögliche Perspektive wird in Israel vorgelebt. Mit einem Wort: Toleranz. Genauer gesagt: Teilung des kulturellen Spektrums. Was sakral und was säkular ist, bestimmt der Staat. Der Kultus begleitet das Leben zeremoniell. Beide Teile der Gesellschaft einigen sich auf diesen Kompromiss: Wer streng gläubig lebt, kommt damit klar, dass sich die Mitmenschen anders verhalten und trotzdem zu ihm gehören. Wer atheistisch ist, ordnet sich der Macht der Tradition in allen wichtigen Momenten seiner Existenz unter (Geburt, Hochzeit, Tod etc.). Sie sprechen eine Sprache, streiten sich aufs heftigste und beeinflussen einander, ohne das zu wollen oder gar gegen ihren Willen. Daraus wächst eine neue junge Kultur. Ist das kein Vorbild für jüdisches Leben in Deutschland?

Diese Russen…

Aktuell leider nicht. Einige Beispiele aus dem Umfeld der russischsprachigen Juden. Mehrere Monate lang wird in der "Evrejskaja Gazeta" die Meinung eines deutschen Juden diskutiert, die von einem russischen Juden als eine Art Interview wortgetreu eingeführt wurde. Dieser beschrieb den alten Mann ausführlich und nannte ihn beim Namen. Schön und gut, nur beim Versuch ihn anzusprechen, entpuppt er sich als Phantom, eine literarische Fiktion, was die Redaktion selbst nicht weiß und nicht wissen will. Die Autoren streiten beharrlich weiter, ob der alte Mann recht hat. Das zeigt, dass der talentierte Erfinder den Nerv getroffen hat. Kurz zusammengefasst: "Jüdische Gemeinden hätten in Deutschland keine Zukunft. Die meisten Mitglieder seien nicht gläubig. Die nächste Generation wachse auch ungläubig auf - im christlichen Land und fern des Judentums (somit auch des Antisemitismus) - und interessiere sich nicht für das Gemeindeleben". Se non è vero, è ben trovato.

Nicht schlechter ist die andere Anekdote. Die gleiche Zeitung behauptete vollen Ernstes, jüdische männliche Chromosomen seien etwas Besonderes (dies hätten "Forscher" in Israel ganz genau festgestellt). Daraus folgt das entscheidende Argument zugunsten der wiederum ernsthaft debattierenden Erneuerung der Halacha: Ein Jude sei nun nicht mehr nach der Mutter, sondern nach dem Vater zu bestimmen.

Der grundsätzliche Widerspruch all dieser Diskussionen äußert sich darin, dass dieselbe Stimme einerseits selbst bestimmen will, wer ein Jude ist (und zwar nicht nach den jüdischen Vorschriften, sondern wie es gerade passt), andererseits, den Jüdischen Gemeinden die Zukunft abspricht: Wenn wir das Judentum nicht verstehen, dann soll das rigide Judentum sich ändern, nicht wir. Und schon zeigen sich Gurus, die bereit sind, alles zu erneuern: Ein russischgeprägter Rabbiner schlägt vor, „dem Judentum den Status einer welt- und menschenoffenen Religion zu verleihen und die Tore der uralten Weisheit für alle zu öffnen!“ Er missioniert weiter: „Wir müssen die Juden und Nicht-Juden erreichen, die verloren gehen, wenn eisern und unflexibel an den Bestimmungen der Halacha festgehalten wird.“

Gibt es einen Ausweg aus diesem Dilemma? Daran wird nicht gedacht, vielmehr geht es direkt weiter zum Streit um die Machtverhältnisse: Die "Russen" sehen sich in der Mehrheit und wollen sich behaupten - aufgrund ihrer zahlenmäßigen Überlegenheit, quasi ganz demokratisch. Diese Mehrheit will ein anderes Judentum, von welchem sie ebensowenig weiß, und will das durchsetzen. Die älteren brummen, kennen sich aber in der Materie zu wenig aus, viele verstehen nicht einmal die Notwendigkeit, Mitgliedergebühren zu zahlen und erwarten alles kostenlos wie im Paradies. Die jüngeren fühlen sich nicht angesprochen, bleiben fern, zahlen auch nicht. Die denkbare Folge - das Aussterben der Gemeinden, wie der oben zitierte fiktive Denker auch prophezeite. Die meisten Schreiber sehen das Problem und wissen, wer die Misere zu verantworten hat: Schuld daran seien die leitenden Personen, die ihre Vorstellung vom Judentum nicht korrigieren. Außerdem auch die nichtjüdischen Deutschen, die Juden nur dulden, um besser in den Augen der Weltöffentlichkeit auszusehen. Was Regierung und Politiker sagen und was das Volk meint, gehe vollkommen auseinander und verspräche nichts Gutes.

Was soll das?

Auch wenn diese Darstellung verkürzt ist und ihre Kanten zugegeben scharfgezeichnet wurden, spiegelt sie nicht nur Ambitionen, sondern auch die Realität. Die Gesellschaft ist säkular und hat wenig Verständnis für spirituelle sowie geistige Bedürfnisse der Immigranten, die ihr altes, durch die Emigration zerbrochenes Selbstwertgefühl vermissen und es in der eigenen, jedoch für sie verschlossenen Tradition nicht wiederfinden. Denn was geschieht, wenn ein russischer atheistisch erzogener Jude zum ersten Mal in seinem Leben in den Gottesdienst kommt und die Schrift vor sich sieht?

Ein Mensch der Tugend entdeckt für sich in den Geboten die Selbstbestätigung und Stütze wieder. Ein dem normativen Denken verbundener Mensch entdeckt etwas anderes: Durch das bloße Tragen der Zizit ist er schon ein Jude. Der erste liest die Torah, um daraus die moralische Bestätigung für sein Handeln zu bekommen, der andere - um sich von der Welt abzugrenzen. In seinem neuesten Artikel hat Jürgen Habermas die Folgen der Auseinandersetzung zwischen Religion und Vernunft angesprochen. Er sieht uns in einer postsäkularen Gesellschaft. Ist eine Diskussion darüber innerhalb der jüdischen Denkweise vorstellbar?

Der zweite Kreis

Indem ich die zum Teil rührenden, zum Teil grotesken Bilder russischsprachiger Juden in Deutschland zu zeichnen versuche, wächst mein eigenes Unbehagen. Werde ich durch den denunziatorischen Drang überrannt, den anonyme Autoren der Evrejskaja Gazeta, Neophyten und Konvertiten aufweisen, und tue ihnen nach? Tja, es kommt darauf an, wie ein Rabbiner an dieser Stelle sagen würde. Mir geht es eher darum, die Verbindung zwischen vorhandenen Strömungen zu fördern. Wie erreicht man die Immigranten, die kaum Zeitungen lesen und dem Mainstream der deutschen bzw. russischen TV-Medien ausgeliefert sind? Wer will und kann vermitteln - die jüdische Tradition, die Kultur, auch die der Diskussion?

Die deutschsprachigen Juden sind als Angehörige von Überlebenden aufgewachsen und sind viel mehr Enkelkinder des osteuropäischen Judentums. Das bedeutet, die meisten Repräsentanten gehören nicht wirklich zu der liberalen Tradition, wie sie in Deutschland vor 1933 gepflegt wurde, und wie sie es von sich denken, sondern bilden selbst eine eigene Tradition. Es ist eine Mischung für sich: Die selbstauferlegte Strenge des Ritus und eine gesuchte Nähe zur Politik eines säkularen (aber doch im vielem christlich geprägten) Staates sind schon ein Widerspruch. Daraus erfolgt ihre Grunderfahrung, wie zum Beispiel die Notwendigkeit jahrein, jahraus Politiker oder Vertreter der christlichen Kirchen daran zu erinnern, dass eine Veranstaltung, zu der eine Jüdische Gemeinde eingeladen wird, nicht für einen späten Freitag anberaumt werden kann. Das will sich einfach nicht ändern. Mal wollen sie eine Synagoge für „ihre lieben“ Juden bauen, mal Stolpersteine verordnen, mal reden sie von "ihrer" Bibel, mal fragen sie, "wie es euch bei uns geht". Jüngst haben gar Bischöfe die Zeit gefunden, als Touristen nach Israel zu reisen, und fanden dabei kein Wort der Empörung über Missstände im eigenen Lande (antisemitischer Angriff auf eine Kindertagesstätte), posaunten aber ihre private Meinung über das bedrückende Elend der Palästinenser groß heraus. Auf diesem Wege verfügen die nichtjüdischen deutschen Eliten weiter darüber, wie die Zukunft des Judentums in Deutschland auszusehen hat: Synagogen als Festungen, starre Shoa-Gedenkfeste, bei denen das Leid der Palästinenser zunehmend mehr angesprochen wird und Juden sich immer weniger zeigen, alltägliche Polizeipräsenz um die jüdischen Einrichtungen und die Selbstbeschwörung um den angeblich unwägbar kleinen Antisemitismus in der Geselllschaft.

Die russischsprachigen Juden sind mit vollkommen anderen Lebenserfahrungen ausgestattet. In der Atmosphäre des staatlichen Antisemitismus aufgewachsen, opferten sie ihr Judentum zuerst, um dann geopfert zu werden. Um sich vom Antisemitismus zu befreien, haben sie auf ihre Religion verzichtet. Dann wurden sie an ihre Nationalität brutal erinnert und diskriminiert. Jeder kann seine eigene traurige Biographie erzählen, wie es einmal war. Wenn sich also die Russischsprachigen orientieren, dann stellen sie fest, dass sie außer ihren Lebensgeschichten nichts Jüdisches an sich haben, nicht einmal die Sprache. Anstatt aber die verlorenen Wurzeln neu zu pflegen, suchen sie nach der Schuld und finden sie nicht bei sich, sondern – wie gesagt - unter den deutschsprachigen Juden. Diese verweigern die Umstellung des Gemeindelebens auf die russische Sprache und Kultur. Keine Jubiläumsfeier für Puschkin? Kein Treffen mit einem ehemaligen Stalinisten, der so gerne aus Russland kommen würde, um über sein bewegtes Leben zu erzählen und Kleingeld zu verdienen? Keine Änderung der religiösen Prinzipien zugunsten der nationalen? Den sich unermüdlich weiter drehenden Kreis habe ich somit schon zweimal beschrieben.

Spachbarriere

Wie bringt man die beiden Seiten zu einem Dialog? Die Sprachbarriere ist das Haupthindernis. Muss es so bleiben? Juden haben es doch in jeder Sprache ihres Wanderweges geschafft, sich zu äußern, unverkennbar zu machen. Shimon Markish unterschied zwischen der russisch-jüdischen Literatur und der russischen Literatur der Juden. Ähnlich formulierte es Semjon Dubnov, als er von der Aneignung der anderen Form und dem Beibehalten des eigenen Wesens sprach. Ist das das exklusive Thema der osteuropäischen Juden? Warum fehlt eine vergleichbare Selbsterkenntnis der deutschsprachigen Juden von heute? Für sie endet die eigene Geschichte vor 1933, immer noch und immer wieder. Kann einer sich einen Kunstfilm über das Leben eines Ignatz Bubis vorstellen? Muß man sich nur auf die Shoa fixiert sehen? Anders formuliert: Genügt es, ein Jude zu sein, um ein Buch über Hitler schreiben oder gar einen Film über Hitler drehen zu „dürfen“? Kann daraus eine jüdische Aussage oder gar jüdische Moral abgelesen werden? Ein jüdischer Blick auf die Welt und ein jüdisches Schicksal – ist das dasselbe? (George Taboris „Mein Kampf“ ist eine Ausnahme, die viel zu wenig Beachtung findet.) Lieblingsbeschäftigung vieler Juden ist es zu zanken - wer denn unter den Berühmtheiten Jude war. Man streitet sich auch heute, ob Karl Marx ein Jude und Charlie Chaplin gerade keiner war. So sitzt man immer noch wie gebannt vor dem Nazi und spricht seine Sprache.

Die wahre Tradition ist da, in Büchern, in Deutungen, die Rabbiner vermitteln könnten, falls sie danach gefragt würden. Warum denn werden jüdische Witze als ausschließlicher Ausdruck der Jüdischkeit wiederkehrend erzählt (von Juden wie Nicht-Juden - wie neulich Joachim Kaiser in der „Süddeutschen“)? Wie viel wird Elie Wiesel gelesen? Wer hat Gedichte von Karl Wolfskehl mit denen von Haim Lensky in einem Programm vorgetragen? Welcher Historiker kümmert sich darum, dass nicht nur Tony Judt, sondern auch Ephraim Karsh ins Deutsche übersetzt wird? Wer protestiert, wenn Juden nach Belieben und aus unermeßlichen Gründen in den Medien in gute und böse selektiert werden? Wo ist dann eigenes Wort, unangepasst und authentisch?

Der Widerspruch zwischen Religionszugehörigkeit und Nationalitätsbestimmung ist existenziell und kann sich nur innerhalb des Judentums lösen. Der christliche - wenn man will, paulinische - Blick von außen hilft dabei herzlich wenig. Die Trennung in deutschsprachige und russischsprachige Juden muss aufhören. Eine staatliche Integration allein genügt nicht – vielmehr bedarf es eines Konzeptes der Integration in die jüdische Gemeinschaft (also mehr als nur die eine oder andere Einheitsgemeinde das beim besten Willen schaffen kann). Die Suche nach der Identität kann nur im Dialog innerhalb der gesamten jüdischen Gemeinschaft in Deutschland zum Thema werden. Und wenn es auch eine Aufgabe für mehrere Generationen ist, sollten die Thinktank-Maschinen etwas schneller rattern.

Zauberworte aus meiner Sicht wären Pluralismus und Toleranz. Ist es eine Gebetsmühle, wenn dieses Wort schon wieder auftaucht? Nein, es ist eine Tatsache, dass heute weltweit mindestens vier Strömungen im Judentum koexistieren, die alle historisch bedingt herausgebildet sind (orthodox, liberal, konservativ, rekonstruktionistisch). Warum nicht noch mehr, aus Bedürfnissen einer neuen jüdischen Gemeinschaft, die gerade hier und jetzt entsteht? Andererseits müsste „das Wort, das mir fehlt“ (Moses bei Schönberg), auch erst – wieder neu - gefunden werden, das, einmal ausgesprochen, gilt und bewahrt. Da hilft nur lesen, die eigene Geschichte endlich kennenzulernen und zu durchdenken (eben nicht nur Gebete blind lernen, nicht nur die Sprache im Kurs für Touristen aneignen). Warum ist Sabbatai Zwi möglich gewesen und was bedeutet sein Schicksal? Was hat zum Aufblühen der Hassidim geführt und was bedeutet deren Denksystem heute? Was ist jüdisch und was deutsch an der Philosophie Leo Baecks? Was jüdisch, was amerikanisch - an der Mordechai Kaplans? Was jüdisch, was russisch - an den Visionen Semjon Dubnows? Welche Kultur mischt sich da zusammen und bleibt sich treu, wo sind Begriffe, Namen dafür, Folgen daraus? Erkennen sich russische Juden in der russischen jüdischen Literatur? Bestehen sie darauf, dass Romane von Wassili Grossman und Anatoly Rybakow von deutschsprachigen Juden rezipiert würden? Bringen sie sie ins deutsche jüdische Leben mit? Oder beschäftigen sie sich lieber mit eigenen Eitelkeiten bis zur Übelkeit?..

Na, haben alle ein bisschen ihr Fett abgekriegt? Träumer vom wiederhergestellten Schtettl und die vom verklärten Weltjudentum auch? Was wird also aus den Juden in Deutschland?

Wenn auserwählt, dann bitte schön - zum Überleben. Wenn alte Traditionen mitgenommen werden - dann zum Weitergeben. Bewußt. Aus sich heraus. In eigener Verantwortung, auch für die Kindeskinder. Damit diese den Spagat schaffen – sich vom Russischen ins Deutsche zu übersetzen, ohne das Jüdische unterwegs zu verlieren.

4. Juni 2007

Im Dialog mit der Zeitschrift "Stern"

Die Zeitschrift "Stern" hat neulich einen großen Artikel über die Juden in Deutschland publiziert, geschrieben von einem Redakteur, Stefan Braun. Dieser Artikel ist nicht gut, und die Motive dafür sind mir unbekannt geblieben, denn ich habe den Autor nicht erreichen können, um ihn dazu zu befragen. Wie auch immer, die "Jüdische Zeitung" (Juni-Heft) hat sich einen bissigen Text dazu gewünscht. Kein Problem:

...und so sieht ein Jude aus

Eigentlich sieben Juden, vier Männer und drei Frauen. So viele Typen kennt Stefan Braun. In einem „Stern“-Artikel werden sie von ihm bildhaft, ja bilderbuchartig vorgestellt: Ein zerstrittenes Panoptikum der alten Juden einerseits, die aus ihrer leidigen Rolle nicht herauskommen, und eine junge Frau andererseits, die nett und hellwach ist und ihr Leben zwischen drei Kulturen genießt.
Der eine hat seine Marotten, weil er zu den Nachkommen der Opfer gehört. Er lebt im Land der Täter und leidet darunter, wo doch alle anderen längst geheilt sind. Streng orthodox ist er, Frauen unterdrückt er in seinem Gottesdienst, vom Charakter her verschlossen und eher dumm, ständig auf der Suche nach Antisemiten. Erledigt.

Der zweite ist ein Chabadnik, seine Macken zeigen ihn noch wesensfremder. Er kommt nicht von hier, will nichts vom Holocaust wissen, seine Frau wird nie einem fremden Mann die Hand geben. Sehr konservativ, sagt Braun weiter und nickt ab, als hätte er den Sinn des Wortes verstanden.

Der dritte ist ein Russe. Stolz auf seine Abzeichen für den Sieg über die Nazis, bewundert der Bewohner eines ekeligen Altenheimes sich im Spiegel und ist bereit, mit einem jeden Besucher zu trinken. Er isst Salami und vertraut sich dem Gast an, dass die Wurst nicht koscher sei, ihm aber besonders schmecke: "Bitte nicht erzählen in der Gemeinde, was wir hier essen." Ehrenwort, das behält Braun für sich. Wenn diese Russen die Macht in den jüdischen Gemeinden übernehmen, dann bleiben ihre Augen kalt, was eindeutig von Verbindungen zum KGB zeugt. Hierzu führt der „Stern“-Redakteur einen Rabbiner ein und vor, um ihn das Schlimmste aussprechen und verdammen zu lassen: Atheisten.

Der vierte ist listig, geschäftstüchtig und medienerfahren. Er kann so gut wie alles, sogar liberale Rabbiner ausbilden, was nicht einmal der Zentralrat geschafft hat, aua-aua.

Drei Frauen sind auch dabei. Die eine ist aus Liebe zu ihrem Mann zum Judentum konvertiert, sie macht mit ihren 73 Jahren auf Braun einen besonders sympathischen Eindruck: „Sie lacht viel, sie redet wie eine in die Jahre gekommene Göre.“ Alles klar? Die andere hat „eine stolze, rotbraune Mähne. Die Frau kann kämpfen.“ Der Kampf besteht anscheinend darin, sich die Stefan Brauns dieser Welt vom Hals zu halten. Offensichtlich erfolgreich, weil sie viel weniger sympathisch geschildert wird. Dies vermittelt der Journalist auch indirekt, denn die dritte Frau beschreibt er mit einer anderen Sprache, wie begeistert. Sie ist angenehm in aller Hinsicht: „Dunkelgrüne, hellwache Augen, rotblonder Haarschopf, bunte Klamotten, Wildlederstiefel. Dazu die Zuversicht der Generation von morgen.“ Sie kann mit der Religion nichts anfangen, nur mit Gefühlen, genau das prädestiniert sie zur auserwählten Volksvertreterin - Braun erklärt sie zur vorbildlichen Jüdin und lässt sie sein Wort zum Sonntag vortragen: „Natürlich gebe es Antisemiten. Wie in anderen Ländern. Aber das dürfe nicht alles überlagern. Nicht ewig.“ Das wollten wir doch schon von Anfang an hören, nicht wahr? Balsam, diese junge Frau, sehr zuversichtlich. Und gleich danach noch vernünftiger: "Es gibt viel mehr im deutschen Judentum. Das muss unser Thema werden."

Lieber Stefan Braun, haben Sie schon mal versucht, Tipps an die Katholiken Deutschlands zu verteilen? Oder so richtig über die Eheprobleme einer evangelischen Bischöfin loszulegen? Nach dem Motto: Es gibt viel mehr im deutschen Christentum. Ich vermute eine etwas zurückhaltendere Reaktion Ihres Chefredakteurs. Es ist eine beneidenswerte Gabe, Karikaturen für Menschen auszugeben, menschliche, allzumenschliche Schwächen – als Mentalität einer vertraut fremden Kultur, und sich von oben herab über leidvolle Probleme lustig zu machen. Etwas pointiert: Reicht Ihnen gefillter Fisch plus Klesmermusik aus?

4. Mai 2007

Oettinger noch einmal

Fast alle haben ihre Meinung zur Affäre Oettinger ausgesprochen. Einige Texte haben mich beschäftigt und ebenfalls dazu animiert, meine Meinung zu formulieren. Sie ist in der Form einer Kolumne bei der "Jüdischen Zeitung" für Mai 2007 erschienen. Zuerst aber will ich einige Zitate zusammenbringen, die in diesem Fall für mich wichtig zu sein scheinen.

Heribert Prantl am 14.4.2007 in der "Süddeutschen":
Oettinger hat Filbingers horrible Rolle im Nationalsozialismus und dessen peinliche Rolle in der mühsamen Geschichte der Vergangenheitsbewältigung der Bundesrepublik nicht neben die unzweifelhaften Verdienste seines Vorgängers gestellt, er hat sie auch nicht einfach ausgeklammert - sondern er hat Filbinger gerechtfertigt, ihn reinzuwaschen versucht. In Anlehnung an Erhard Eppler, der einst Filbinger ein pathologisch gutes Gewissen bescheinigte, mag man Oettinger eine fast pathologische Naivität attestieren.
Mit seiner Salvierung Filbingers hat er noch einmal aufgedeckt, was er hatte zudecken wollen - und also das Gegenteil dessen erreicht, was er bewirken wollte. Für Filbinger läutet nun kein stilles, sondern ein schrilles Totenglöckchen. Eine Entschuldigung Oettingers ist nicht veranlasst. Er hat halt gezeigt, wes Geistes Kind er ist. Das ist Strafe genug.

Bettina Gaus am 17.4.2007 in der TAZ:
Die meisten anderen Kritiker ließen Oettinger noch ein Hintertürchen offen - genau jenes Türchen, durch das er nun geschlüpft ist. Das ist traurig. Es wäre ein Zeichen von Selbstachtung, wenn die politischen Führungsspitzen dieses Landes unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit deutlich machten, dass sie diesen Ministerpräsidenten nicht mehr als Kollegen in ihren Reihen wünschen. Zu erwarten ist das allerdings nicht. Auch deshalb, weil die Erfahrung lehrt, dass die Öffentlichkeit solcher Diskussionen schnell überdrüssig wird. Neuer Tag, neues Thema.

Reinhard Borgmann am 16.4.2007 im Kommentar bei den Tagesthemen (mit freundlicher Erlaubnis des Autors):
Jetzt soll also Schluss sein, mit der Debatte. Guenther Oettinger hat sich entschuldigt, „Filbinger“ ist Schnee von gestern und die skandalöse Trauerrede auch. Wir sollen also wieder zur Tagesordnung übergehen, wenn es nach Angela Merkel und Guenther Oettinger geht: Kein Rücktritt nach der Verfälschung der Geschichte, der Verhöhnung der Opfer und der Beleidigung jedes halbwegs denkenden Menschen.

Oettinger hat dem wachsenden Druck - auch aus seiner eigenen Partei - endlich nachgegeben. Satz für Satz musste ihm abgerungen werden. Opportunismus und nicht höhere Einsicht haben ihn dazu gebracht. Eine armselige Haltung, die nur noch durch die Äußerungen des Chefs der Baden-Würtembergischen Landesgruppe im Bundestag Brunnhuber übertroffen wird. Der Parteifreund Oettingers unterstellte, dass ausgerechnet der Zentralrat der Juden mit seiner Kritik an Ministerpräsident Oettinger den Rechten in die Hände spiele. Da haben wir es also wieder – „Die Juden sind schuld“.

Auch wenn die Rücktrittsforderungen inzwischen zurückgenommen wurden: Günther Oettinger sollte tatsächlich sein Amt aufgeben, wenn er nicht in der Lage ist, die rechtskonservativen Kreise in seinem Landesverband in den Griff zu bekommen.


Und jetzt meine Kolumne:
Mutprobe

Günther Oettingers Trauerrede für Hans Filbinger folgten viele Worte – eine breitgefächerte, bunte Meinungspalette. Es sind ja vielleicht nur zwei Auswege aus dem Schlamassel im Angebot – Rücktritt oder Entschuldigung. Dahinter stecken aber mehr als nur zwei Themen – die Nazivergangenheit Filbingers und der Umgang mit ihr. Weniger Trauerspiel denn Moralité.

Oettinger wurde vorgeworfen, unwissend und dumm zu reden. Falsch. Er hat sich erklärt – zuerst mit der Feststellung, so denke man nun mal „in unserem Kulturkreis“, zum anderen mit dem ausführlichen Bezug auf seine Quellen – Golo Mann (konservativer Historiker), Günther Gillessen (ein ehemaliger FAZ-Herausgeber und Autor der „Jungen Freiheit“) und Hans Maier (ehemaliger Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken). Auch darüber hinaus sind genug Stimmen zu hören, die sich mit seiner Weißwäscherei zufrieden zeigen. Es geht hier - genauso wie bei der exemplarischen Diskussion zur Wehrmachtsausstellung (Oettinger war 1998 ihr Gegner) - um die Deutungshoheit. Und wie bei jeder Therapie bedeutet die Verdrängung Weh und die schmerzvolle Auseinandersetzung Wohl.

Sein Zögern und Zaudern sind nicht nur Oettingers Gewissensfrage, sondern die der gesamten Nation. Was folgte denn der Rede? Die ersten Buhrufe kommen von SPD, Grünen, DGB und dem Zentralrat der Juden, Pressekommentare folgen einen Tag später. Oettinger wurde verübelt, dass er mehrere Tage und Stationen gebraucht hat, um sich zu entschuldigen. Ich würde andere Maßstäbe setzen: Seine Zuhörer Wolfgang Schäuble, Lothar Späth, Erwin Teufel haben weder während der Rede noch bis heute Falsches an der Rede gefunden. Na und? Stört das mutige Journalisten, die im Kielwasser des Zentralrats schwimmen? Wo bleibt das Gedenken an 15000 durch die Nazis hingerichtete Deserteure? Wer wagt es, in ihnen Widerständler zu sehen?

Zwei Tage nach dem Eklat meldet sich die CDU-Bundesmutter, die den Landesvater mühsam zurückholt und ihn bei seiner Entschuldigung wie im Kindergarten behutsam begleitet. Merkel und Knobloch sind damit zufrieden gestellt, Hochhuth auch. Merkel „erwarte, dass die Entschuldigung jetzt auch gehört wird“. Noch majestätischer geht es kaum. Dieser Ton ruft eine zweite Empörungswelle hervor, die nicht enden will. So kippen manche Prognosen prominenter Journalisten gleich zweimal nacheinander – ermahnt zum Aufruhr will die Öffentlichkeit lieber doch nichts damit zu tun haben. Wenn sie aber von der Absolution des Zentralrates erfährt, will sie sich erst recht nicht beruhigen.

Rührende Briefe der Kriegsveteranen einerseits, welche ihre damalige Angst vor der „Lynchjustiz der Nazifanatiker“ beschreiben, und andererseits offen antisemitische Äußerungen auf mittlerem politischen Level („Da könnten wir ja auch gleichzeitig die Schließung des Zentralrats fordern“) zeigen eine enorme Breite und Zerrissenheit der Gesellschaft. Die Volksgemeinschaft ist hin.

Weiß die neu entstandene Öffentlichkeit mit dem eigenen Gewissen umzugehen? Jahrzehntelang wurde dieses Gewissen an den Zentralrat der Juden delegiert. Der war böse, klar. Jetzt zeigte der Zentralrat Milde. So eine Versöhnung, von oben diktiert, will die aufgebrachte Medienöffentlichkeit aber auch nicht. Das Moralisieren dürfe doch „kein jüdisches Thema“ sein. Gutes Futter, um sich wieder zu einigen?

Wenn die einzige Folge der Affäre die Erkenntnis Oettingers sein würde, dass ein amtierender Ministerpräsident nicht zu der Riege der Neurechten gehören darf, wäre es schon sehr viel. Dann hätte einer aus „seinem Kulturkreis“ den Weg nach außen gefunden. Denn Filbinger selbst hat seine Schuld nie eingesehen!

Darf ich daran erinnern, dass er nach seinem Rücktritt in Weikersheim mehr Schaden anrichtete, als er je als Landesvater hätte bewerkstelligen können? Wie will dieselbe Öffentlichkeit es verhindern, dass Hohmann und Günzel ihr Gift weiter verbreiten? Wäre es nicht besser, die Erledigung der Affäre einem Harald Schmidt zu überlassen: „Entschuldigt gefehlt hat der baden-württembergische Ministerpräsident Günther Oettinger. Er bereitete die Geburtstagsrede für den 20. April vor…”

Von der Achtung zur Ächtung ist es nämlich nicht sehr weit…

2. April 2007

Kandidatenwatch bei der TAZ

Vor einigen Tagen hat die TAZ versucht, rechtsradikale Parteien für Demokratie zu gewinnen, und zwar in Bremen, kurz vor Bürgerschaftswahl 2007. Zwei Artikel von Armin Simon wurden dem Thema gewidmet, unter anderem mit dem Titel "SPD boykottiert Demokratie" (Link) und mit den wahlkämpferischen Zitaten aus den Reihen von der FDP ("peinlich" und "unverständlich"). Auch in diesem Fall also wird die schöne Internetwelt für die wahre Realität gehalten. Mein Leserbrief ist erschienen, stark gekürzt (Link). Ich hebe das Gestrichene mit der Kursivschrift hervor:
Die Vorstellung, in einem Internetforum mit Rechtsradikalen vernünftig reden zu können, ist realitätsfern. Kein Forum hat dieses Problem bisher gelöst. Moderatoren halten sich kaum an den ethischen Grundsatz und lassen es zu, dass rassistische und menschenverachtende Texte online gestellt werden. Ihre persönlichen sowie unprofessionellen Motive sind ein Thema für sich, ändern aber nichts an der Tatsache. So wird gut gemeinte „Entlarvung“ zur Propaganda-Plattform. Die Demokratie will geschützt werden, ich sehe bei der Bremer Politik weder „Sabotage“ noch „Boykott“.
Dr.
Grigori Pantijelew, Bremen

3. März 2007

Wie ich den Frieden spielend herstellte

Ich mochte die Novelle von Mark Twain "How I edited an Agricultural Paper" (Link) schon immer. Als die ersten Meldungen über das PC-Spiel "Peacemaker" mich erreichten, spürte ich, beides trifft sich zusammen. In der Tat! Der Artikel erschien in der "Jüdischen Zeitung" (März 2007).

Heute bin ich israelischer Premierminister geworden. Ich habe Soldaten aus den palästinensischen Gebieten abgezogen und die Entwicklungshilfe über die UN überwiesen. Palästinenser fragen sich, ob ich ein guter Politiker bin. Zwei Wochen später üben sie ein Selbstmordattentat aus – mit vielen Opfern. Ich ignoriere das. Die Presse lobt mich für die Selbstbeherrschung.

Daraufhin treffe ich mich mit dem palästinensischen Präsidenten und höre ihm zu, was er so auf dem Herzen hat. Danach fühlt er sich entschieden besser. Siedler sind mit mir allerdings unzufrieden und demonstrieren. Ich ignoriere das: Es ist Zeit, Stipendien zu verteilen. Das kommt gut an.

Da ich immer Geld in der Staatskasse habe, passe ich auf, dass ich regelmäßig wirtschaftliche Investitionen und soziale Ausgaben tätige, sowie den Palästinensern unermüdlich helfe. Sie sind stolz und nehmen alles - jedenfalls, wenn es über Vermittler kommt. Langsam gewöhnen sie sich an mich und spielen gerne in den gemeinsamen Orchestern. Meine Armee und Polizei haben offensichtlich ihr eigenes Budget, darum muss ich mir keine Sorgen machen. Wenn ich mich an die Auslandspresse wende, dann rufe ich einmal zum Frieden, einmal zu vermehrtem Druck auf die Palästinenser auf. In Israels Medien stelle ich mich den Palästinensern nur streng gegenüber. Das mögen alle, auch wenn sie mich durchschauen. Wenn sich zu viele Terroranschläge meiner Popularität in den Weg stellen, kann ich mal Militante gezielt bombardieren, sie sind einige Tage lang verdutzt, dann ist es aber gut. Irgendwann erreicht meine Beliebtheit an beiden Seiten der Grenze das Maximum, Züge fahren hin und zurück, die Wirtschaft blüht, der Frieden ist da, mein Friedensnobelpreis liegt abholbereit.

Zur richtigen Abwechslung versuche ich mich auch als palästinensischer Präsident: Hier ist das Betteln bei Investoren angesagt, die Hamas wird ignoriert, und nicht vergessen: Ich muss zur Weltöffentlichkeit über den Frieden reden – und dies so oft wie möglich. Gleich zu Beginn alle militanten Gegner heimtückisch ermorden, die Polizei aufrüsten und mit Israelis gemeinsam patrouillieren lassen. Mich bei der israelischen Regierung jederzeit überschwänglich bedanken, wenn sie etwas schenkt. Der Fatah biete ich an, die Korruption zu bekämpfen, der Hamas – für die Ordnung auf den Straßen zu sorgen. Sie sind entzückt darüber und wollen sich schon nach einigen Monaten selbst entwaffnen. Dann kann man auch die Al-Aksa-Moschee in Ost-Jerusalem für sich beanspruchen und zuerst für Palästinenser öffnen. Jetzt habe ich meine Leute ganz auf meiner Seite. Die Israelis sind davon so beeindruckt, dass sie für mich die Wirtschaft, Erziehung, Gesundheitswesen und noch mehr aufbauen und mir Seehäfen und Grenzbewachung überlassen. In meiner Staatskasse klingelt es wie verrückt. Es bleibt nur noch, die Moschee für den christlichen Tourismus zu öffnen, das bringt die meisten Punkte. Palästinenser und die restliche Welt sind glücklich, mein Friedensnobelpreis ist mir sicher.

So einfach ist es. Das neue, vor Monaten durch die „New York Times“ angekündigte Computerspiel „Peacemaker“ macht’s möglich. Zwei bemerkenswert asymmetrische Wege führen zum Frieden. Ein Spieler als Israeli muss für sich Israelis und Palästinenser gewinnen, als Palästinenser dagegen nur sein Volk und die Weltöffentlichkeit. Israel hat immer Geld, Palästinenser kaum (weder UN noch EU helfen ihnen im Spiel). Israel kann Palästinenser massakrieren, Palästinenser können nicht einmal einen Terroranschlag veranlassen.

Tausende von Spielern jubeln, darunter viele Deutsche: „Ich habe zwei Stunden gebraucht, um auf der höchsten Schwierigkeitsstufe als palästinensischer Präsident das Spiel erfolgreich zu absolvieren. Nie hatte ich eine solch beglückende und befriedigende Spielerfahrung.“

Eigentlich eine gute Idee – vielleicht sind die unverbesserlichen Friedenskämpfer, die keine Ahnung von der Realität haben, für eine Weile beschäftigt? Ich gebe zu, ich spiele mit dem Titel auf eine Story von Mark Twain an. Könnte die Friedensbewegung im Spiel ihr „Spieglein, Spieglein an der Wand“ erkennen? Oder ist das hoffnungslos?

Zu viele Juden

Bevor ich den folgenden Artikel an die "Jüdische Zeitung" abgab, prüfte ich mehrfach, ob jemand von deutschsprachigen Autoren oder Bloggern das Thema angesprochen hatte. Bis jetzt keiner. Ich verstehe das nicht. Der Artikel erschien März 2007.

Es ist immer spannend zu beobachten, welche Skandale von deutschen Medien aufgenommen und hochgespielt werden, welche nicht. Berlusconi hat mit einer Frau geflirtet – wochenlang wird diese Überraschung mit voller Begeisterung ausgeschlachtet. Schröder hat einen lukrativen Aufsichtsratposten bei einer Gaspipelinegesellschaft übernommen, mit Gazprom im Vordergrund. Die Hälfte der Presse meldet sich mit süffisantem Unterton zu Wort und tut das dezent immer mal wieder, damit die SPD-Umfragewerte nicht erneut steigen.

Der ehemalige USA-Präsident Jimmy Carter hat sein 21stes Buch geschrieben. Seine Aussage: „In mancherlei Hinsicht erleiden Palästinenser in der Westbank mehr Unterdrückung als die Schwarzen in Südafrika während der Apartheid”. Anstatt dies zu akzeptieren, „schlage sich das jüdische Interpretationsdogma allein darin nieder, dass alle wichtigen amerikanischen Zeitungen das Buch entweder ignoriert oder aber verrissen hätten - von jüdischen Kritikern oder Lobbyisten“. Wie sind die Reaktionen? Eine Welle der Empörung weltweit, Jubel und Trubel beim Islamischen Dschihad. Deutsche Zeitungen dagegen beruhigen ihre Leser. Zur Not mit den beschwörenden rhetorischen Übungen von Uri Avnery. Die mutigeren Redaktionen mit der eigenen Diagnose, der Friedensnobelpreisträger wolle ja "nur Fakten präsentieren." Die „Süddeutsche“ geht noch weiter: „Die diffuse Anklage Carters gegen die jüdische Meinungslobby in Washington gewinnt damit eher an realer Bedeutung. (…) Carter in die antisemitische Ecke zu stellen, spielt denen in die Hände, die immer noch einer jüdischen Weltverschwörungstheorie anhängen.“

„Die Welt“ geht die Sache feiner, rührend menschlich an: „"Man hat mich einen Lügner geschimpft", sagte [Carter] kürzlich in einer Rede vor den überwiegend jüdischen Studenten der Brandeis University in Boston, "einen Heuchler, einen Antisemiten, einen Plagiator und einen Feigling." Die persönlichen Attacken hätten ihn "sehr verletzt", bemerkte Carter. (…) Rabbi Marvin Hier, Gründer und Vorsitzender des Simon Wiesenthal Center in Los Angeles, befand, Carter habe "ein Buch geschrieben, das vom Titel bis zum Inhalt unverhohlen einseitig ist und eines ehemaligen Präsidenten unwürdig". Und der ehemalige Vizepräsident Walter Mondale, der als proisraelisch gilt und Jimmy Carter freundschaftlich verbunden ist, bemerkte, es gebe "sehr viel gutes Material in dem Buch. Aber ich habe hier und da doch ein paar Probleme." Vielleicht tröstet es Jimmy Carter, dass sein Buch seit neun Wochen auf der Bestsellerliste der "New York Times" steht - derzeit auf Platz fünf.“

Dutzende Widerlegungen, die falsche Behauptungen in Carters Buch minutiös aufdecken, darunter brillante wie von Alan Dershowitz und Kenneth W. Stein, werden mit einem leicht gönnerhaften Kopfnicken abgetan. Das Thema abgeschlossen, in Wirklichkeit ausgetauscht – den Medien geht es nicht um die Inhalte, sondern darum, dass Carter weder ein Antisemit noch ein Idiot sei.

Und was ist dran am Vorwurf des Antisemismus? Aaron Klein, den deutsche Leser inzwischen als Autor des Buches „Die Rächer“ kennen (neben welchem der Film „Munich“ von Spielberg als historisch unwahre Fantasie im Regen steht), publiziert am 25. Januar ein Interview mit Monroe Freedman, dem ehemaligen Direktor des Holocaust Memorial Council. Das Komitee wurde von Carters Administration erschaffen, um das Holocaust Museum in Washington zu gründen, Freedman von Elie Wiesel dafür 1980 engagiert. Wiesel stellte die Liste der Mitglieder für das geplante Komitee zusammen und schickte sie an das White House, Freedman bekam das Papier mit dem eigenhändigen Vermerk Carters zurück: „Too many Jews“. Infolgedessen wurde ein Name gestrichen - der eines Holocaustforschers, welcher für Carter jüdisch klang. Der Hinweis darauf, dass ausgerechnet dieser ein Presbyterianer sei, hat nicht geholfen. Freedman machte aus diesem Eklat nie ein Geheimnis, nur interessierte sich dafür keiner, bis Klein auf ihn zukam.

Kein Kommentar von Carter, genauso wenig von seinen Beratern. Deutsche Zeitungen berichten darüber gar nicht, kein Wort, nicht einmal deutsche Blogger tragen die Nachricht weiter. Warum nur?

3. Februar 2007

Gesunder Patriotismus

Zu dem Begriff läuft eine mehr oder wenige müde Diskussion. Mein Beitrag dazu stellt den Begriff ganz in Frage. Die Jüdische Zeitung hat den Text ohne Änderungen abgedruckt:

Befragungskünstler

Ich möchte so gerne die Fremdenfeindlichkeit bekämpfen. Man erzählt von so vielen Vorkommnissen - schlimm! Dann kommen Politiker und prüfen Einzelfälle eingehend auf Anzeichen unwissenschaftlicher Verallgemeinerung. Die Öffentlichkeit soll sich beruhigen: „Es werden auch blonde blauäugige Menschen Opfer von Gewalttaten, zum Teil sogar von Tätern, die möglicherweise nicht die deutsche Staatsangehörigkeit haben. Das ist auch nicht besser.“ (Wolfgang Schäuble, Innenminister)

Was soll ich bitte tun? Na klar, werde ich belehrt: Einen gesunden Patriotismus entwickeln. Dazu greift man einen Demoskopen und legt ihn wie ein Stethoskop an die Brust der Nation. Wenn die Befragungsresultate vorliegen, kann man sich über den Befund beschweren.

Wilhelms Heitmeyers Untersuchung läuft seit 2002: „Fremdenfeindlichkeit drückt sich unter anderem darin aus, dass 59,4% der Befragten in 2006 der Auffassung sind, dass zu viele Ausländer in Deutschland leben. Zudem, so die Auffassung von 35,3%, sollen Ausländer zurückgeschickt werden, wenn die Arbeitsplätze knapp werden.“

Eine Studie von Klaus Schroeder erschien 2003: Jeder Fünfte der befragten Jugendlichen zeige „eine strikte ausländerfeindliche Einstellung“, davon mehr als jeder Dritte „überdurchschnittlich oft auch“ „eine antisemitische Grundhaltung“ und knapp 30 % „ein NS-nahes Geschichtsbild“.

Weil die Differenz so auffallend ist, greift Schroeder Heitmeyer an: „Der hohe Anteil vermeintlich fremdenfeindlich Gesinnter ergibt sich aus der Zustimmung zu dem Satz „Es leben zu viele Ausländer in Deutschland“. Knapp 60% der Befragten stimmen dieser Einschätzung mehr oder weniger zu. Doch ist es angesichts beträchtlicher Integrationsprobleme nicht legitim, dieser Meinung zu sein? (…) Selbst die Befürwortung der Forderung, Ausländer sollten in ihre Heimat zurückkehren, wenn Arbeitsplätze knapp werden, ist nicht unbedingt Ausdruck von Feindschaft gegenüber Ausländern, sondern drückt eher die Sorge um den eigenen Arbeitsplatz aus.“ Der vergessliche Kritiker schrieb in seinem Buch: „Nur etwa jeder Zweite scheint immunisiert gegenüber einem rechtsextremistischen Weltbild.“ Heitmeyer dagegen darf das nicht sagen.

Forschungsinstitute führen solche Umfragen seit Jahrzehnten durch – mit Aussagen wie „Wenn Arbeitsplätze knapp werden, sollte man die in Deutschland lebenden Ausländer wieder in ihre Heimat zurückschicken.“ Oder: „Würden Sie sagen, dass Sie - sehr stolz, ziemlich stolz, nicht sehr stolz oder überhaupt nicht stolz darauf sind, ein(e) Deutsche(r) zu sein?“

Jürgen R. Winkler folgerte daraus 2003: „Je größer der Nationalstolz ist, je weiter rechts sich Befragte einstufen und je stärker Individuen autoritäre Werte bekräftigen, desto negativer ist ihre Einstellung zu Fremden. (…) Die höchsten Werte auf der Skala „Fremdenfeindlichkeit" erreichen hier Franzosen, die sich auf der Ideologieskala weit rechts einordnen. Ihnen folgen weit rechts stehende Belgier, Deutsche, Österreicher und Dänen sowie Belgier, Deutsche und Franzosen mit einem stark ausgeprägten Nationalstolz und Belgier und Franzosen mit einer sehr autoritären Wertorientierung.“

Heitmeyer darüber: „Die Auswertung der Daten unserer Längsschnittstudie von 2002 und 2006 zeigt (…): Je höher die Identifikation mit Deutschland und je größer der Stolz auf die eigene Gruppe, desto stärker werden Fremdgruppen abgewertet.“ Genauso meinen Autoren der IPOS-Studie 2004: 45% der Jugendlichen, „die stolz darauf sind, Deutsche zu sein, reden von Überfremdungsgefahr.“ Dazu allerdings ein verblüffender Kommentar: Weil 52% der Befragten Ausländer für eine kulturelle Bereicherung hält, atmet das Institut auf, das sei „ein klares Votum“!

Angesichts der Geschichte solcher Begriffe wie „Leitkultur“ und Slogans wie „Kinder statt Inder“ oder des vieldiskutierten Einbürgerungsfragebogens würde ich mir überlegen, ob nicht auch der „gesunde Patriotismus“ der Gefahr ausgesetzt ist, mit dem „nationalen Stolz“ mehr als nur verwechselt zu werden. Sollten wir uns lieber um den Umgang der Mehrheit mit Minderheiten sorgen? Oder gar um das soziale Klima? Denn Befragungskünstler alleine können das weder verantworten noch lösen.

Mohammed Al Dura Prozesse in Frankreich

Zum Thema Al Dura-Prozesse gibt es nicht viel in der deutschen Presse, insgesamt zwei kleine Artikel. Dafür viel mehr schreiben darüber die Blogger, insbesondere aber englischsprachige. Der Text, den ich vor zwei Monaten fertig geschrieben habe, ist eine Folge der ausgiebigen Lektüre. Ich habe ihn an mehrere Zeitungen verschickt und bekam keine Rückmeldungen. Jetzt ist er in einer stark abweichenden Form in der Jüdischen Zeitung erschienen. Ich bringe den Text hier in der Originalfassung:
Von Marsianern getötet

Philippe Karsenty wird nicht auf die Teufelsinsel verbahnt. Er muss lediglich mehr als 4000 Euro zahlen. Hundert Jahre nach dem Dreyfus-Prozess will die Justiz gelernt haben, durch mildere Strafen die Öffentlichkeit weniger aufzuregen. Ist die Parallele zu der Dreyfus-Affäre überhaupt angebracht?

Am 30. September 2000, zu Beginn der lange geplanten Intifada, belagerten junge Palästinenser eine Stellung der israelischen Armee im Gazagebiet, damals eine besetzte Zone. Unweit der Befestigung, in sicherer Entfernung, inszenierten Jugendliche und Männer stundenlang Kampfszenen für Videoaufnahmen. Mittendrin wurde eine Szene gedreht, die am selben Tag weltweit durch den Sender France 2 als wahre erschütternde Begebenheit ausgestrahlt wurde und maßgeblich zur Verschärfung der Lage beitrug. Talal Abu Rahma behauptete, 45 Minuten lang unter Beschuss gefilmt zu haben, davon 6 Minuten die Ermordung des 12-jährigen Mohammed Al Dura. Der französische Korrespondent Charles Enderlin bekam 27 Minuten des Drehs und montierte daraus 55 Sekunden, die auf Sendung gingen. Enderlin kommentierte die Bilder aus dem Studio: „Jamal Al Dura und sein Sohn sind Zielscheiben des Maschinengewehrfeuers von der israelischen Position her“. Plakate und Poster mit Fotos aus dem Video waren am selben Tag fertig. Der Kameramann erzählte nicht, dass seine Arbeit von zwei Kollegen mitgefilmt wurde, die sich neben Vater und Sohn befanden und nicht beschossen wurden, erklärte nicht, warum hinter seinem Rücken hörbare Regieanweisungen gegeben werden und erwähnte nicht, dass direkt hinter ihm eine Stellung bewaffneter Palästinenser lag. Wer und wie Mohammed Al Dura erschossen und seinen Vater Jamal verwundet hat, zeigt die Videomontage nicht.

In den nächsten Tagen rügt Frankreichs Präsident Chirac den israelischen Ministerpräsidenten Barak öffentlich. Die „Time“ ernennt Mohammed Al Dura zum „Newsmaker for 2000“. Die palästinensische Propaganda arbeitet auf Hochtouren. Auf zahlreichen Videos ruft die angebliche Stimme von Mohammed Al Dura Kinder zu Selbstmordattentaten auf. Bei vielen Hinrichtungen und Massenmorden an Israelis und Amerikanern in der Folgezeit wird das Kind gepriesen. Bin Laden verwendet das berühmt gewordene Bild in seinen Videobotschaften. Schulen und Straßen werden nach ihm genannt, Kunstwerke erschaffen. Das ist Pallywood - die massive Propaganda wirkt heute noch.

Die Zeit der ersten Zweifel und der Analyse kommt später und dauert Jahre. Als Erstes erscheint 2002 ein Film von Esther Schapira („Drei Kugeln und ein totes Kind“). Die Autorin wollte eigentlich die Bestätigung für die damals noch unerschütterte Schuldzuweisung an Israelis liefern und musste das Konzept komplett verändern, weil Tatsachen dagegen sprachen. Sie hat eine interne israelische Untersuchung vorgestellt, die General Samia angeordnet hat. Derselbe General, der die Mauer sprengen ließ, samt dem Betonfass, hinter dem sich Vater und Sohn versteckten. Damit wollte er die blutigen Kämpfe an der Kreuzung stoppen. Dies gelang ihm, nun war aber keine unabhängige Untersuchung mehr möglich. Ihr Fazit: Das Kind wurde auf keinen Fall von Israelis erschossen, viel eher geschah dies durch Zufallstreffer von Palästinensern selbst. France 2 zeigt den Film nicht. Ende 2004 unter dem wachsenden Druck der Öffentlichkeit führt der Sender drei Journalisten das gedrehte Material intern vor. Sie stellen fest: Außer den bekannten 20 Sekunden gibt es keine weiteren relevanten Bilder, dafür zahlreiche gestellte Szenen, in denen Jugendliche angeben, verwundet zu werden. Außerdem wird die Frage aufgeworfen, warum sich das Gesicht des Jungen von den Leichenfotos so gravierend unterscheidet. Arlette Chabot, die Leiterin des Senders, schlägt vor, eine Expertise in Auftrag zu geben, was jedoch bis heute nicht geschehen ist. Sie macht 2005 sogar ein Zugeständnis: „Keiner kann mehr genau sagen, wer ihn tötete, Palästinenser oder Israelis“. Enderlin hält an seiner Version heute noch fest: „Das Bild entspricht der Realität in Gaza und Westjordanland“. Die verärgerte Chabot antwortet auf die weitere Kritik mit Klagen gegen drei Autoren, die in Frankreich den Sender und Enderlin persönlich für die Verbreitung der ungeprüften und unwahren Bilder angeprangert haben. Autoren wie Nidra Poller und Richard Landes, die alle vorhandenen Versionen des Falls meisterhaft untersucht haben, Zeitungen wie das Wall Street Journal, International Herald Tribune, New York Times, die Fernsehstation SNC, welche ausführlich berichteten und alles beim Namen genannt haben, werden dabei nicht angeklagt, nur die „kleineren“ Leute.

Im Herbst 2006 ging der erste Prozess über die Bühne. Karsenty habe „diffamiert“. Keine Experten wurden eingeladen, keine Expertisen angeordnet. Eine Beweisaufnahme fand nicht statt. Nicht einmal das Original des Videos wurde angefordert. Kurioserweise wurde der Film von Schapira gezeigt, was der Staatsanwältin genügte, den Freispruch zu beantragen. Für die Richterin war aber die Autorität des Senders und Enderlins unantastbar, umsomehr dass ein Empfehlungsbrief von Präsident Chirac eintraf, der für seinen guten Freund Enderlin ein gutes Wörtchen ausgesprochen hat. Der Gerichtsbeschluss zitiert zwar komplett die Kritik Karsentys: Einige Fragmente vom Video seien offensichtlich eine Inszenierung. Die Richterin ignoriert dies und sagt sinngemäß, man dürfe doch Enderlin, der einen so guten Ruf hat, nicht diffamieren. Aussagen von ihm, der nicht vor Ort war, werden unhinterfragt angenommen. Die kritischen Analysen dagegen mit Argumenten wie „schwach“ und „widersprüchlich“ zurückgewiesen. Die Richterin betonte gar zweimal, dass keine Regierungsstelle in Israel die Echtheit des Videos angezweifelt habe. Ohne diese Regierung auch nur dazu zu befragen und die einzige Expertise von General Samia ignorierend. Ihre einzige Quelle dafür sind Enderlins Reportagen. Enderlin äußerte sich gegenüber der Presse zufrieden: „Sie können alles mögliche sagen, dass meinetwegen der junge Mohammed von den Marsianern getötet wurde, aber Beleidigungen und persönliche Beschuldigungen sind nicht akzeptabel“.

Der zweite Prozess, gegen Pierre Lurçat, ging sehr schnell aus. Der zuständige Richter wies die Anklage aus technischen Gründen ab: Die Anwältin des Senders habe nicht nachgewiesen, dass Texte, die sie Lurçat zuschreibt, auch tatsächlich von ihm stammen. Der dritte Prozess, gegen Charles Gouz, ist für den 18. Januar angesetzt.

Die Fragen bleiben: Warum sind die Schüsse in die Mauer von dort aus gekommen, wo keine Israelis, dafür Palästinenser waren? Vater und Sohn versteckten sich hinter einem Betonfass, was weder die Sicht noch das Zielen und Treffen für Soldaten ermöglichte. Wären sie so blutrünstig gewesen, wie es ihnen unterstellt wird, wären ihre Schüsse unter dem Winkel von 42° eingeschlagen und nicht von geradeaus, wie auf dem Video eindeutig zu erkennen ist. Wem droht der Vater mit der Hand, wenn vor ihm nicht die israelische Position, sondern eine Kreuzung liegt? Da anschließend von mindestens 12 Treffern die Rede war (9 an den Vater, 3 an den Sohn), kann man diese weder Scharfschützen zuschreiben noch von Zufallstreffern der Israelis reden, denn diese gaben ausschließlich einzelne Schüsse ab, Palästinenser dagegen Salven. Warum bewegt sich das Kind, nachdem es für tot erklärt wird? Warum unterscheiden sich die Aussagen von Enderlin und Rahma? Enderlin soll die Agonie herausgeschnitten haben – es gibt aber keine solchen Bilder. Warum bleibt das Original des Videos unter Verschluss? Warum interessiert sich das Gericht dafür nicht und warum akzeptiert es den freundschaftlichen Brief des Präsidenten, nicht aber die Petition von 4000 Menschen vom März 2006? Wartet die Welt auf einen Zola, der diesen Präsidenten über die Gerechtigkeit belehrt? Für die Richtigstellung in der Dreyfus-Affäre sind viele Jahre notwendig gewesen, wie man aus den Erinnerungen von Leon Blum erfährt. Haben wir Geduld. Die Zeit wird kommen.

UPDATE I. Die Fortsetzung der Story: Nidra Poller schreibt über die neue Sitzung des Gerichts bei Pajamas Media
UPDATE II. Richard Landes hat seine Al-Dura-Sammlung aktualisiert.
UPDATE III. Melanie Phillips berichtet aus Frankreich, ausführlich bis ins kleinste Detail.
UPDATE IV. Ein unabhängiger Experte bestätigt die Falsifizierung des Al Dura-Videos.